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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Aber was an die Stelle? Die eine Forderung, welche Lessing gestellt hatte, war erfüllt: „Das unreine Wasser der alten Orthodoxie war völlig ausgegossen“, aber war nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?

Das Wunderkind. Nach seinem eigenen Gemälde auf Holz übertragen von Gabriel Hackl.

Oder wo war das reine Wasser, in welchem es hinfort gebadet werden konnte? Mit anderen Worten: wo war die reinere Glaubensform, in welcher ein anders denkendes, von anderen Weltbegriffen beherrschtes Geschlecht demselben religiösen Triebe unserer Natur, denselben frommen Empfindungen, demselben Ringen des Gemüthes nach Heil und Versöhnung, welchem die Väter durch die Bilder und Vorstellungen der Orthodoxie genügt hatten, einen neuen, der Zeit entsprechenden Ausdruck gab? Lessing hatte gerathen, die alten Lichter fortbrennen zu lassen, bis die Sonne aufgehe. Strauß hatte die alten Lichter alle ausgelöscht, aber wo war die Sonne, die nicht nur den Geist erhellte, sondern auch das Gemüth erwärmte? Die, wie oft sie auch den Weg glücklich andeuteten, doch mageren, oft sterilen und abstracten Formeln aus der Hegel’schen Philosophie, welche Strauß am Schlusse eines jeden Abschnittes an die Stelle des zertrümmerten Glaubens setzte, konnten dafür nicht gelten.

Treffend hat ein neuerer Schriftsteller über Strauß geurtheilt: „Talentreicher, gelehrter, scharfsinniger, geschmackvoller ist Lessing nicht gewesen, aber er war gleichwohl die höher und origineller angelegte Natur. Es fehlte Strauß jene letzte Vertiefung des Geistes und Gemüthes, die volle Mitempfindung des menschlichen Wesens und Geschickes, die den Weisen, den Geschichtschreiber, den großen Forscher, den Gründer einer Schule, den Führer einer geistigen Genossenschaft kennzeichnet.“ Demjenigen, was die Völker suchen in ihren Religionen und Confessionen, oft im Lichte, oft auf dunkeln, verworrenen Wegen, ist Strauß, eine vorherrschend kritische und ästhetische Natur, nicht gerecht geworden.

Aber war denn jene zweite, positive Aufgabe, welche Lessing in Aussicht gestellt, Strauß nicht gelöst hatte, nicht anderwärts bereits gelöst? Alles wies auf Schleiermacher, der die Innigkeit und Wärme des religiösen Gefühls mit der Kraft und Freiheit der Wissenschaft in einem so seltenen Grade verbunden, der in seinem grundlegenden Werke aus den Jahren 1821 und 1822 „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ den Versuch gemacht hatte, Religion und Christenthum im Einklange mit den Anforderungen der Wissenschaft der Zeit darzustellen. Es kostete viel Schweiß, durch das umfangreiche Werk sich durchzuarbeiten. Nach der anschaulichen Plastik des Straußischen Styles diese schwere Sprache, diese gewundene Darstellung, diese künstlichen Gedankenwege, diese spintisirende Reflexion! Aber der Gewinn war groß. Hier erschienen Religion und religiöse Gemeinschaft als wesentliche Factoren der menschlichen Natur und als weltbewegende Mächte in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutung, aber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_200.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)