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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

einheitlich, mit sich übereinstimmend im Ganzen und in den Theilen, wie es das frühere gewesen war. Lessing’s Forderung war nicht: keine Theologie mehr! So weit, wie die Aufklärung von heute, war er nicht. Seine Forderung war: eine neue Theologie, welche alle Fragen des Verstandes, die sich auf dem Grunde unserer religiösen Erfahrung im Zusammenhang mit unseren übrigen Welterkenntnissen erheben, von einer neuen Grundanschauung aus ebenso einheitlich, klar und bestimmt beantwortet, wie es die frühere von ihren Kenntnissen und Voraussetzungen aus gethan hatte.

Ich habe Lessing erst später, nach den Studienjahren, eingehender und gründlicher studirt, aber das war wenigstens die Richtung, in der ich lief, als in unserem Studiengang die Reihe an die Dogmatik kam. Zuerst wollte ich die Orthodoxie genau kennen lernen, nicht die verdünnte, abgeschwächte, verschämte, wie sie mir in den sich rechtgläubig oder positiv rühmenden Theologen meiner Zeit entgegentrat, sondern jene echte, ungebrochene, selbstbewußte, die mit Luther sprach: „Alles geglaubt oder nichts geglaubt; ist die Glocke an Einem Orte geborsten, so taugt sie überhaupt nicht mehr“, oder mit Quenstedt: „wenn in den canonischen Büchern Einiges nach Menschenart oder mit menschlicher Bemühung, nicht durch die Eingebung des heiligen Geistes geschrieben wäre, so käme das ganze Ansehen der Bibel in Gefahr; wenn ein einziges Verslein ohne den unmittelbaren Einfluß des heiligen Geistes geschrieben ist, so wird der Satan gleich bei der Hand sein, dasselbe vom ganzen Capitel, vom ganzen Buch, zuletzt von der ganzen Bibel zu sagen.“

Ich las die wahrheitsgetreue Darstellung der lutherischen Dogmatik von Schmid und legte daneben die großen, schweinsledernen Folianten von Calov und Quenstedt, um die Belegstellen aus den Quellen zu schöpfen. Das war freilich ein barbarisches Latein, durch welches man sich hindurcharbeiten mußte; das war eine Scholastik, so gräulich und ungenießbar, wie je die mittelalterliche gewesen war, so unfruchtbar für das Leben, wie für die Wissenschaft, weil diese Lehrer der Kirche, ihren Kopf auf ein altes Buch gedrückt, nichts von Allem sahen und sehen wollten, was rechts und links vorging, aber es war eine Ganzheit des Standpunktes, eine Tapferkeit des Glaubens, eine Folgerichtigkeit des Denkens, die sich Achtung erzwang. Man gebe mir nur zwei Dinge: das Weltsystem, welches die Phantasie des auf die Reformation folgenden Geschlechts trotz Copernicus und Galilei noch erfüllte, die in Himmel, Erde, Hölle dreigetheilte Welt und daneben das einzige Factum, den Fall des ersten Menschen im Paradiese mit seinen schrecklichen Folgen, und ich will die ganze Kirchenlehre, Dogma für Dogma, nachconstruiren. Die Welt hatte so schön begonnen, hervorgequollen aus Gottes Hand; der Geist schwebte über den Wassern, und des Ewigen Wort ertönte: es werde Licht! und aus der Reihe der Welten und Wesen, die diesem Rufe folgten, trat zuletzt der Mensch hervor, nach Gottes Bilde geschaffen, schön und gut, wie die ganze neuerschaffene Welt, der Herr der Erde und der Träger der göttlichen Gedanken. Aber unglücklicherweise fällt er in einer schwachen Stunde, verführt von dem Geist der Hölle, der auf die Erde züngelt. Mit einem Male verdunkelt sich die Welt. Das Paradies verschwindet; die Erde trägt Dornen und Disteln; mit der Sünde kommt der Schmerz, seitdem das Loos des Sterblichen, und am Ende der traurigen Bahn steht der Tod, der leibliche, und noch schrecklicher, der geistige, die Verdammniß, die der erzürnte Gott über das ganze kommende Geschlecht verhängt um der Sünde des Einen willen. Das Herz ist böse; die Vernunft ist verfinstert, der Wille verkehrt, und ein Geschlecht um das andere eilt der Hölle zu.

Aber während der Mensch sich hierunten vergeblich abringt mit seinem Loose, hebt im Herzen der Gottheit selbst ein Kampf an; die Liebe ringt mit der Gerechtigkeit. Die Liebe ruft Rettung; die Gerechtigkeit verlangt Sühne für die ganze, in’s Unendliche abgelaufene Sündenschuld. Wer soll die Sühne bringen? Der Mensch nicht, denn alle Menschen stehen ohne Ausnahme unter dem Bann der Sünde und des Fluches. Nur ein Gott kann es thun, aber ein Gott in Menschengestalt, damit, was er thut, den Menschen seinen Brüdern gutgeschrieben werden könne. Gott entschließt sich, Mensch zu werden, genügt dem Gesetze, das Adam verletzt hatte, durch ein schuldloses Leben, nimmt die Strafe der Sündenschuld auf seinen Rücken und schlägt sie an’s Holz in seinem Kreuzestode. „Es ist vollbracht,“ ruft er, „Satan, der Fürst der Welt, ist verurtheilt. Sünde, Fluch und Tod sind gerichtet; der Himmel ist wiedergebracht,“ und der Gottesheld steigt zuerst in die Behausungen der Todten, erbricht die Riegel der Hölle und kündigt den gefangenen Geistern die frohe Botschaft an, dann schwingt er die Siegesfahne über seinem Grabe und erhebt sich triumphirend wieder in den Himmel. Seitdem ist der Himmel wieder offen über dem sterblichen Geschlecht; die Gnade kann sich wieder in vollen Strömen ergießen, aber natürlich nur über diejenigen, welche die dargebrachte Sühne als eine auch für sie geschehene anerkennen, welche, verzweifelnd an sich selbst im Gefühle ihrer Schuld, das Verdienst jener erlösenden Gottesthat im Glauben ergreifen.

Das ist der phantasievolle Rahmen, in welchen die Kirche Dogma um Dogma eingefaßt hat, in welchen unsere Völker über anderthalb Jahrtausende ihre tiefsten Betrachtungen über Gott und Welt, ihre heiligsten Gefühle und erhabensten Stimmungen, ihr Hoffen und Lieben und Leiden hineingelegt haben – das größte Drama, das sich denken läßt, denn sein Schauplatz ist der weiteste: er umfaßt Himmel und Erde und Hölle, und sein Thema ist das größte: es ist der Mensch in seinem Ringen um sich und seinen Gott. Das größte Drama – und doch nur wie ein verklungenes Märchen aus der Jugendzeit für den gegenwärtigen Menschen, wie eine Göttergeschichte, der er sich erinnert in der Kindheit einmal mit begierigem Ohre und mit leuchtenden Augen gelauscht zu haben, die aber mit allen seinen jetzigen Welterkenntnissen und sittlichen Einsichten im grellsten Widerspruche steht. Mir machte es keine Mühe, sie abzuschütteln; ich war aus ihr hinausgewachsen, lange ehe ich sie zum Gegenstande des gelehrten Studiums machte; alles, was ich gelesen und getrieben hatte, fast die ganze neuere Literatur in Prosa und Poesie, athmete einen anderen Geist. Fast alle meine Studiengenossen hatten ihr Zweifeljahr; wie sie’s angriffen, die Vernunft zu geschweigen und zum „Glauben“ zurückzukehren, war mir unklar.

Aber ich wollte nicht blos überhaupt fertig sein mit der Orthodoxie. Der Theologe mußte sich Rechenschaft geben, warum er damit fertig sei und was er an die Stelle zu setzen habe. Ich nahm daher „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, dargestellt von Dr. David Friedrich Strauß. Zwei Bände, 1840“ vor mich. Das war einmal grüne Weide nach dem unfruchtbaren Acker der altkirchlichen Dogmatik. Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie viel ich diesem Buche verdanke. Man sollte Keinen zum theologischen Examen zulassen, der sich mit demselben nicht gründlich auseinander gesetzt hat. Hier wird Dogma für Dogma von der Weltschöpfung an bis zum Weltuntergang, von dem Paradiese an, von welchem das menschliche Leben ausgeht, bis zu Himmel und Hölle, in welche es mündet, durch alle Stufen seiner Entwickelung, in seinen schüchternen biblischen Anfängen bis zu seinem Abschluß in der katholischen und altprotestantischen Kirchenlehre verfolgt; dann wird jeder Widerspruch, der sich gegen dasselbe erhoben hat, jeder Aufschrei der Vernunft, jede Klage des Gemüthes, jede Auflehnung des sittlichen Bewußtseins einzeln abgehört und zuletzt zusammengefaßt in der gewaltigen Stimme einer auf neuen Grundlagen ruhenden Wissenschaft und Bildung. Das ist nicht die Kritik des einzelnen Mannes, die dem Brunnenrohre gleicht, das jeder Knabe eine Weile zuhalten kann; das ist die Kritik der Jahrhunderte, der Geschichte selbst, die als ein brausender Strom heranstürzt, gegen den alle Schleußen und Dämme nichts vermögen.

Und dieses Geschäft, das wohl jeden Andern durch seine Einförmigkeit ermüdet hätte, wird hier mit einer immer gleichen Geistesfrische, mit stets wechselnden Darstellungsformen, mit so viel Geist und Geschmack, mit so viel künstlerischer Virtuosität zu Ende geführt, daß das gelehrte Werk der Wissenschaft fast zur angenehmen und erquickenden Unterhaltungslectüre wird. Ich las mit Lust und Aufmerksamkeit bis zu Ende. Das alte Götterbild lag zertrümmert zu meinen Füßen; ich hatte mit der Orthodoxie, und zwar nicht nur mit diesem und jenem an ihr, sondern mit der ganzen Weltanschauung, welche ihr zu Grunde liegt, für immer gebrochen, und ich wußte warum.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_199.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)