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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Publicum in der Westentasche; er weiß es, wie Keiner, bei seiner schwachen Seite zu fassen; er weiß die Possenreißerei, die Uebertreibung, die Caricatur genau abzuwägen; er versteht es besonders, die Fiber des Nationalhasses in Schwingung zu setzen, wozu selbst ein geborener patriotischer Franzose nicht immer im Stande wäre. Außerdem ist Tissot ungemein belesen. Will er einen Stoff behandeln, so scheut er weder Kosten noch Mühe, um sich alle Bücher, Broschüren, ja selbst Kalender zu verschaffen, die über den Gegenstand Aufschluß enthalten. Ein Freund, der ihn diesen Sommer auf seiner deutschen Reise begleitete, erzählte mir, daß Tissot in jeder Stadt, wo die Beiden hinkamen, zuerst die Buchhandlungen aufgesucht und dort oft stundenlang die staubigen Fächer des Magazins zur Verwunderung des Sortimenters durchstöbert habe, der jede Hoffnung aufgegeben hatte, die schimmeligen Bände noch an den Mann zu bringen. Diese Bibliomanie verhalf Tissot zu manchem Schatz, den er im ersten wie im zweiten Theil seines Buches verwendet.

24. Februar 1876.

A.




Verkehrsbilder aus Amerika.


Von Rich. Bl–.


1. Der Hudson.


Es ist eine eigene Erscheinung für den Deutschen, der nach langer Abwesenheit von „Drüben“ wieder nach Deutschland zurückkehrt, zu bemerken, daß bei uns die Begriffe über Amerika fast noch so verworren und falsch sind, wie sie es waren, als er Deutschland verließ. Es sind drüben so viele Millionen Deutsche, auch Viele, die wirklich im Stande sind, den Ihrigen in der alten Heimath brieflich mitzutheilen, worin die Begriffe, welche man in Deutschland über Amerika hat, unrichtig sind. Es gehen also alljährlich gewiß Tausende von Briefen hinüber und herüber mit Frage und Antwort; diese vertheilen sich nach allen Gegenden Deutschlands, und man sollte denken, sie würden im Laufe der Jahre wesentlich dazu beitragen, falschen Ideen über „das Land der Freiheit“, in denen man hier befangen ist, den Garaus zu machen. Aber nein! die vielen Deutsch-Amerikaner, die hierher zu Besuch kommen, die deutsch-amerikanische Presse, die doch auch herüber kommt, die vielen Tausende von Briefen haben scheinbar gar nichts bewirkt. Amerika wurde einmal vor Jahren als das Land, als die eigentliche Heimath aller Hallunken dargestellt, und wirklich noch jetzt trifft man diese Vorstellung bei einem großen Theile des Publicums verbreitet. Die Ursachen für das noch heute vorhandene Vorurtheil sind wohl mit darin zu suchen, daß es noch vor wenigen Jahren von den Kleinstaaten Deutschlands gewagt wurde, schwere Verbrecher nach Amerika zu „begnadigen“. Als ob dieses Land eine deutsche Strafcolonie sei! Die der „Begnadigung“ folgenden Proteste der amerikanischen Staaten, die darauf wieder folgende Zurücksendung des Begnadigten und die Entschuldigungen der beleidigenden Regierungen hier werden wohl, vielleicht in Folge absichtlicher Verheimlichung, in nicht so weiten Kreisen bekannt geworden sein, wie der Act der „Begnadigung“ selbst. Ferner mag noch ein Grund wohl der sein, daß Darsteller wie Ruppius, Gerstäcker und Andere die crassesten Scenen des amerikanischen Lebens den Lesern deutscher Zeitschriften als Alltägliches beschrieben und so die Meinung entstehen mußte, in Amerika sei das Extreme, das Wüste und Außerordentliche an der Tagesordnung.

Es ist etwas entmuthigend, sich sagen zu müssen: „Was Du auch darstellst, es ist bald wieder vergessen, und in kurzer Zeit werden die Vorstellungen, welche durch das Gelesene angeregt wurden, sich wieder verwirren, bald sogar ganz dem Gedächtniß entschwinden, weil eben die vielleicht unbewußte, vorgefaßte Meinung besteht, es sei doch nicht so.“ Trotzdem will ich versuchen, nach und nach den Lesern der Gartenlaube einige Cultur- und Sittenbilder aus dem Leben des in der Bildung begriffenen Volkes der Vereinigten Staaten vorzuführen, und so ein Scherflein dazu beitragen, irrthümliche Ansichten zu berichtigen.

Nichts macht auf den neu Eingewanderten drüben einen imponirenderen Eindruck, als der fast unbegreiflich rege Geschäftsverkehr in der Stadt der Ankunft, New-York. Alle benachbarten Orte, alle Verkehrsstraßen, welche nach der großen Weltstadt führen, werden mit hineingezogen in den Strudel des Geschäfts der Riesenstadt. Eine solche Verkehrsstraße mit all ihrem Handel und auch mit ihrem landschaftlichen Umgebungen und geschichtlichen Erinnerungen zu schildern, sei heute mein Thema.

Die Flüsse Amerikas sind so recht die Hauptadern für die Ansiedelung des Landes gewesen und sind es noch. Am Laufe derselben entstehen nach einander stromaufwärts Ansiedelungen, aus diesen dann Ortschaften, Städte. – Eine der ältesten dieser Adern des großen Reichs ist der Hudson.

Die in früheren Zeiten schwierige, ja wegen der großen Kosten oft unmögliche Aufgabe, von den Stromansiedelungen an den Mündungen der Flüsse nach den neuen Niederlassungen am oberen Laufe derselben Straßen zu bauen, zwang die Ansiedler, die Flüsse selbst als Verbindungsstraßen zu benutzen. Die Folge davon war, daß die Ansiedelungen sich anfangs nur den Flüssen, und zwar hauptsächlich den schiffbaren entlang entwickelten. So erklärt sich die Erscheinung, daß die Flußthäler meist dicht bevölkert sind, während rechts und links nur wenige Meilen vom Flußufer landeinwärts noch jetzt die Bevölkerung spärlich vertheilt ist. – Wie sehr das gerade bei dem Hudson der Fall ist, beweist die Thatsache, daß die Städte und Ortschaften, welche unmittelbar an seinen Ufern liegen, ein Drittel der Gesammtbevölkerung des Staates New-York[1] bilden, während die Bewohner der sogenannten River-Counties, der dreizehn Grafschaften, welche an den Strom stoßen, gar die Hälfte der Gesammtbevölkerung der sechszig Grafschaften des Staates ausmachen. –

Vom geographischen und physikalischen Standpunkte aus betrachtet, ist der Hudson eine Curiosität, wie sie wohl kaum auf der Erde außer am St. Lorenz- und Amazonenstrome wieder gefunden wird. Das Gefälle des Stromes ist ein so geringes, daß die Ebbe und Fluth sich noch hundertfünfzig englische Meilen[2] stromaufwärts bei der Stadt Troy fühlbar macht. Diese Erscheinung wäre nicht auffallend, wenn das Land, durch welches der Strom fließt, flach wäre. Aber, im Gegentheile, sind gerade die Ufer des unteren Laufes des Hudson hoch und gebirgig.

Eine fernere Eigenthümlichkeit des Stromes ist seine gewaltige Breite und Tiefe, welche letztere es den tiefst gehenden Schiffen erlaubt, hundertzwanzig englische Meilen stromaufwärts zu fahren. Mit Ausnahme des Durchflusses des Hudson durch die Hochlande von Westpoint hat derselbe von New-York bis zur Stadt Hudson eine Breite, welche nie unter eine englische Meile sinkt. Auch in der engen Passage durch die bewaldeten, steilen Höhen von Westpoint ist seine Breite nirgends geringer als zweitausend Fuß, während er zwischen Yonkers und dem zwanzig Meilen oberhalb gelegenen Sing-Sing über eine geographische Meile breit ist. Die Tiefe des Stromes ist ebenfalls eine ziemlich gleichmäßige.

Auch von der Stadt Hudson an aufwärts, zwischen den Sandbänken und Inseln, zeigt das Hauptfahrwasser des Stromes immerhin noch eine achtunggebietende Breite. Denn sie ist nirgends geringer als fünfhundert Fuß, nur seine Tiefe nimmt bedenklich ab, da sie allmählich bis auf fünfzehn Fuß herabsinkt; bei der gefährlichen „Bank von Castleton“ hat der Strom sogar nur eine Tiefe von acht Fuß.

In den Atlanten und Geographien wird der Hudson gegenüber dem Mississippi, St. Lorenz und anderen Strömen, wie natürlich, zurückgesetzt, so daß vielleicht daher in Deutschland die Ansicht Platz gegriffen hat, er sei, als etwas Unbedeutendes, zu übersehen. Und doch, nähme man den Rhein, die Donau, die

  1. Der Staat New-York ist an Flächenraum genau so groß wie die Staaten Württemberg, Baiern, Sachsen, Braunschweig, Altenburg und Weimar zusammen.
  2. Etwa dreißig geographische Meilen. Alle folgenden Maße für Entfernung sind in englischen Maßen gegeben. 459/100[WS 1] englische Landmeilen sind eine geographische Meile. Fünftausendzweihundertachtzig Fuß oder 160929/100[WS 1] Meter sind eine Meile englisch.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. a b Die Zähler der Brüche sind in der Vorlage nicht vollständig erkennbar, nur die Nenner können mit einiger Sicherheit als 100 gelesen werden. Unter Zuhilfenahme des Wikipedia-Artikels Meile, in dem die englische und die geographische Meile und ihr Umrechnungsfaktor in Meter genannt werden, sind die annähernd passenden Zähler hier eingesetzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_184.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)