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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

 Die alte Jungfer.

 Von Hermann Semmig.

 Sie sitzt am Fenster, still ihr Haupt,
 Das bleiche, drückend in die Hand;
 Ihr Auge, kalt und glanzberaubt,
 Blickt vor sich hin starr, unverwandt.
Ihr scheint im fröhlichsten Gewimmel
 Die Welt ein schweigend wüstes Meer
Mit farblos nebelödem Himmel,
 Gleich ihrem Herzen einsam, leer.

 Verborgen wuchs sie, Allen fern;
 Sie floh den Tanz, ein scheues Reh;
 Sie liebte nie; stets einsam gern,
 That Keinem sie, ihr Keiner weh.
Nie hing beglückt an liebem Munde
 Beglückend sie in holder Scham;
Nie hat verschwiegne süße Wunde
 Ihr Herz gepflegt in stillem Gram.

 Zwar als ihr Kindertraum zerrann,
 Als bei der Nachtigallen Schlag,
 Im Glanz der Jugendsonne dann
 Der Erde Garten vor ihr lag,
Da hat’s in nächtlich süßen Schauern
 Gar oft gewogt in ihrer Brust
Von einem sehnsuchtsbangen Trauern,
 Von heißer unerklärter Lust.

 Dann schlief es unverstanden ein,
 Und nur ein tiefes krankes Weh
 Schlich sich in ihren Busen ein,
 Jungfräulich kalt wie frischer Schnee.
So ohne Thränen, ohne Klage,
 So ohne Lächeln, ohne Lust
Verblühten ihre Jugendtage,
 Und still und leer blieb ihre Brust.

 Zuletzt, als der Verkümm’rung Pein
 Sich schon um ihre Lippen zog,
 Da war’s, als ob ein Sonnenschein
 Hell über ihre Züge flog,
Als löste sich nach langen Zeiten
 Ihr Herz von einem schweren Bann,
Als müßte sie die Arme breiten
 In Hast um den geliebten Mann.

 Zu spät! Sie war ihm überreif;
 Er sah sie schmerzlich an und ging.
 Es war kein Thau, es war wie Reif,
 Was da an ihrer Wimper hing.
Dann schloß, daß sie sich selbst betrüge,
 Sie lächelnd zu ihr müdes Herz;
O Weib! Durch Deines Lächelns Lüge
 Weint doch ein namenloser Schmerz.

 So fliegt im Spätherbst noch einmal,
 Gleich einem milden Frühlingskuß,
 Ein letzter warmer Sonnenstrahl –
 Ein Willkomm-, ach, und Scheidegruß –
Hin über die erstarrte Welt,
 Die er im Frühling nicht verklärte,
Bis dann der Schnee des Winters fällt
 Leis auf die todesmüde Erde.

 So lächelte ihr Angesicht,
 Auf dem die Rosen schon verblüht,
 Indeß ihr mildes Augenlicht
 Vom letzten Strahle zuckend glüht.
Die Tage fliehn; es kommt die Zeit,
 Wo wie des Schnees erste Flocke
Das erste Silberhaar geschneit
 In ihre mädchenbraune Locke.

 Dann fliegt vielleicht es noch einmal
 Durch ihre Seele zitternd bang,
 Wie seines Auges süßer Strahl,
 Wie seiner Stimme lieber Klang,
Wie auf beschneitem Rosenzweige
 Vom Frühling singt ein Vögelein;
Dann neigt sie still ihr Haupt, das bleiche,
 Und lächelnd, lauschend schläft sie ein.




Ole Bull auf der Cheops-Pyramide.


Von Adolf Ebeling.


An einem schönen Septembertage des vorigen Jahres saß das schwedische Königspaar unter der Veranda des reizenden Lustschlosses Drottningholm bei Stockholm. Die Königin, von ihrer letzten Krankheit her noch leidend, hatte zu ihrer völligen Wiederherstellung dieses Schloß gewählt, für das sie von jeher eine Vorliebe gehabt und wo sie lieber weilte, als in Ulriksdal oder Rosersberg, und wohl mit Recht, denn Drottningholm ist mehr zur Einsamkeit und Zurückgezogenheit geschaffen. Ein prächtiger Park und freundliche Gärten dehnen sich weithin und schließen es gewissermaßen von der Außenwelt ab. Freilich braucht man jene Anhöhen nur zu besteigen, um sofort ein wundervolles Panorama vor sich zu haben: Die inselreiche Bucht des Mälarsees und das von vielen großen und kleinen Segeln belebte Meer, und nach der anderen Seite hin Stockholm selbst, mit seinen Thürmen und Palästen, dem Mastenwalde seines Hafens und den dunkelgrünen Bergen im Hintergrunde. –

Ein Kammerherr erschien und meldete einen Besuch, der vermuthlich erwartet wurde, denn die Königin, die zu jener Zeit weder Audienzen ertheilte, noch sonst empfing, machte hier eine Ausnahme.

Der Eintretende war ein hochgewachsener, schlanker Mann von kräftiger Statur, wenn auch bereits in vorgerückten Jahren, was wenigstens sein langes, fast schneeweißes Haar bezeugte, obwohl der Ausdruck seines freundlichen, sympathischen Gesichts ein überaus jugendlicher war. Die Majestäten begrüßten ihn wie einen alten Bekannten und namentlich der König kam ihm mit großer Herzlichkeit entgegen. Dieser Mann war Ole Bull, der berühmte Violinspieler, der vor dreißig und vierzig Jahren zu den bedeutendsten Virtuosen seiner Zeit gehörte und den man damals vielfach, und mit Recht, den zweiten Paganini nannte. In den letzten Decennien fast vergessen (er hatte lange in Nordamerika ein vielbewegtes Leben geführt und sich endlich in seiner Heimath Norwegen dauernd niedergelassen), beabsichtigte nun der alternde, aber noch immer erstaunlich rüstige Mann eine neue Kunstreise durch Europa „und weiter“, wie er scherzend hinzusetzte, und kam, um sich bei den Majestäten, die ihm von jeher große Theilnahme bezeigt hatten, zu empfehlen.

Im Laufe des Gesprächs erkundigte sich die Königin bei dem Künstler nach einer neuen Composition, von welcher derselbe schon oft gesprochen und die, wie sie vernommen, jetzt vollendet sei.[1] Ole Bull erbot sich sogleich, sie vorzutragen, aber der Leibarzt widersetzte sich, weil der Zustand der hohen Frau noch Schonung verlangte. Jene Composition ist ein größeres Tonstück mit Orchesterbegleitung, das unter dem Titel „Saeterbesöget“ (Sennhüttenbesuch auf den norwegischen Alpen) unstreitig zu den besten Arbeiten Ole Bull’s gehört. Wir werden weiter unten noch darauf zurückkommen.

„Wenn es uns also vor der Hand noch nicht vergönnt ist, Ihre neue Composition zu hören,“ sagte der König, dem plötzlich eine originelle Idee kam, „so möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Sie treten eine neue Kunstreise an und wollen sogar über Europa hinaus. So kommen Sie vielleicht auch nach Aegypten. Wie wär’s, wenn Sie Ihr Stück auf der Spitze der Cheopspyramide spielten? So etwas,“ setzte der König, der dadurch bewies, daß er den Künstler nur zu gut kannte, lächelnd hinzu, „so etwas ist noch nicht dagewesen und scheint mir für einen Virtuosen sehr verführerisch.“

Ole Bull stimmte nicht allein lebhaft bei, sondern nahm sofort den Vorschlag an. Er hatte ohnehin bereits an Alexandrien und Kairo gedacht und faßte nun den festen Entschluß, auch diese beiden Städte zu besuchen und in letzterer den echt königlichen Gedanken, wie er sagte, zur Ausführung zu bringen. Nun ging der König noch weiter und schlug den 5. Februar, den Geburtstag des Künstlers, und zwar seinen Sechsundsechszigsten, als den Tag des Pyramidenconcerts vor, was gleichfalls angenommen wurde. Hierauf beurlaubte sich Ole Bull und wurde von den Majestäten mit den besten Wünschen entlassen.

Der Künstler begab sich nun auf die Reise und spielte zuerst in Kopenhagen, dann in Berlin und Stettin, in Hamburg, Lübeck und Bremen, also in allen jenen Städten, wo er vor drei und vier Jahrzehnten einen so enthusiastischen Erfolg gehabt. Die Zeiten, auch in der musikalischen Welt, waren freilich anders geworden; die moderne classische Schule, namentlich in Berlin, empfing ihn anfangs kühl, und sogar manches herbe Urtheil wurde laut, aber nach und nach gewann er sich die Herzen, und je häufiger er sich hören ließ, um so ungetheilter kehrte der Beifall früherer Zeiten zurück. Es war doch immer der vielbewunderte Virtuose von ehemals, dessen unerreichte Technik Staunen erregte und nach wie vor an sein dämonisches italienisches Vorbild erinnerte. Und doch auch nicht mehr wie früher, denn

  1. Streng genommen (wie Ole Bull uns selbst sagte) ist diese Composition nicht neu, sondern nur die Erweiterung und Ausarbeitung einer früheren, die der Künstler bereits vor fünfzehn Jahren überall in seinem Vaterlande mit großem Erfolge spielte, und auf die er, eben ihrer Popularität wegen, jetzt bei seinem neuen Auftreten zurückgekommen ist.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_180.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)