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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Rothen sagten, die Blauen, und die Blauen sagten die Rothen hätten angefangen – natürlich „verrätherisch“. Da sich auch die Feuermäuler des Mont Valerien in den Zank mischten, hatten die Rothen bewegliche Gründe, nicht nur über die Seinebrücke, sondern auch hinter die Porte Maillot, d. h. hinter die schützende Umwallung von Paris zurückzugehen. Die Blauen füsilirten in ihren Händen gebliebene Gefangene „sans phrase“. Zur Antwort auf die Mordschüsse vom 18. März, sagten sie später. Man sieht, in diesem französischen Bürgerkriege begann es tüchtig zu spaniolen.

Nun braus’te, was roth in der Stadt, gewaltiglich auf. Was, wir sollten uns von dem Nußknacker Thiers und seiner Krautjunker- und Bauernversammlung also mitspielen lassen? Kanonen auf den westlichen Wall! Aux armes, citoyens! Nach Versailles! Nach Versailles! Laßt unsere Generale ihre Schuldigkeit thun, damit wir das vermaledeite Nest des Royalismus und Klerikalismus da draußen ausnehmen und mit einem Schlage unserer hochgelobten Kommune Bahn brechen im schönen Frankreich!

„Unsere Generale“ Eudes, Bergeret, Duval und Flourens thaten denn auch richtig ihre Schuldigkeit, hielten Kriegsrath und setzten einen Plan auf, wozu die Vollziehungskommission im Stadthause Ja und Amen sagte. Abends heizte ein Maueranschlag, worin mit Charette’s „Chouans“, „päpstlichen Zuaven“, Trochu’s „bretonischen Läusekerlen“, „royalistischen Verschwörern“ und ähnlichem Zornfutter nicht sparsam umgegangen wurde, den mehr oder weniger heldischen Bürgern tüchtig ein.

Am folgenden Morgen geschah der Ausfall, der aber nicht glänzend ausfiel. Um 4 Uhr in Marsch gesetzt, brachen die Rothen in drei Kolonnen aus der Umwallung hervor. Zur Linken sollte der „General“ Eudes über Montrouge auf der Straße von Clermont gegen Villacoublay vorgehen. In der Mitte der „General“ Duval über Issy und Meudon gegen Viroflay. Auf der Rechten sollten die „Generale“ Bergeret und Flourens Rueil und Bougival zu erreichen suchen. Als Gesammtwirkung dieser drei Ausfallsstöße war ein Vorstoß auf Versailles geplant, „um die Schlange in ihrem Neste zu zertreten“. Nun aber gehören zur Ausführung eines Planes bekanntlich immer zwei. Einer, welcher denselben ausführt, und ein anderer, welcher die Ausführung zuläßt. Im vorliegenden Falle versagte der andere den Dienst, d. h. die Blauen schickten die Rothen mit blutigen Köpfen heim, nachdem wiederum insbesondere das mörderische Feuer des Mont Valerien das ganze Unternehmen von vornherein dem Scheitern nahegebracht hatte. Die sämmtlichen „Generale“ der Kommune wurden auf allen Punkten geschlagen und der ganze Ausfall schließlich am folgenden Tage hinter die Wälle zurückgeworfen. Zwei der rothen Häuptlinge kehrten nicht wieder in die Stadt zurück. Der phantastische, aber ehrlich-fanatische und tapfere Flourens wurde, mit seinen Truppen von Paris abgeschnitten, am 4. April in einem Hause unweit Rueil, wo er genächtigt hatte, von versailler Gensdarmen, welche von Bauern auf ihn gehetzt waren, überfallen und fiel, den Säbel in der Hand, unter dem Säbel eines Gegners. Den gefangenen Duval ließ der General Vinoy erschießen. Als diesem der Gefangene vorgeführt worden, fragte er ihn: „Was würden Sie mit mir machen, so ich Ihr Gefangener wäre?“ worauf Duval als aufrichtiger Mann antwortete: „Sie erschießen lassen.“ Man that ihm, wie er gethan haben würde. Wie du mir, so ich dir.

Die arme Mutter von Gustav Flourens holte den todten Sohn von Versailles, wohin man ihn gebracht hatte, nach Paris herein. Man hatte ihr den Leichnam ausgeliefert, aber unter der Bedingung, daß die Bestattung ohne Pomp und Demonstration vor sich ginge. So folgten nur die trostlose Mutter mit ihren zwei übrigen Söhnen und ein Priester dem Sarge zum Père Lachaise. Am Tage darauf stand in einem rothen Blatt: „Ein Priester hat Flourens in geweihter Erde begraben. Das ist ein Unglücksschlag über das Grab hinaus.“ Der Schlag that aber nicht mehr weh Einem, welcher eingegangen war in das große Schweigen, worein ja dereinst der verglühte Erdball selbst versinken wird, mit allen seinen Scheinfreuden und Peinleiden still versinken wird, wie eine verblühte Wasserlilie in die Tiefe sinkt. … Aus dem Begräbniß von anderen 31 Gefallenen machte man ein großes Spektakel. Denn wie alle Despoten wußten auch die Stadthausherren, daß man der Menge „panem et circenses“ verschaffen müßte. Zugleich wurde eine Proklamation ausgegeben, worin es lapidarisch hieß: „Die Banditen von Versailles erwürgen oder erschießen unsere Brüder, die in ihre Hände gefallen. Wenn sie noch einen einzigen unserer Wehrleute ermorden, so werden wir das mit der Hinrichtung einer gleichen oder doppelten Anzahl von Gefangenen beantworten.“ Ein Vorwink, aber ein Vorwink mit der Mordkeule auf das Scheusälige hin, was später in La Roquette und anderwärts geschehen sollte. …

Am Tage des mißlungenen großen Ausfalls war der Bürger Cluseret von der Kommune zum Delegirten beim Kriegswesen ernannt worden. Dieser neue Kriegsminister durfte sich kecklich General schelten lassen. Vor Zeiten, im Krimkrieg, Kapitain in einem Jägerbataillon, hatte er – man weiß nicht recht warum – den französischen Dienst verlassen, das sicilische Abenteuer Garibaldi’s mitgemacht, dann den großen amerikanischen Bürgerkrieg. Ein richtiger Condottiere unseres Jahrhunderts, hatte er die Witterung der Revolution und lief überallhin, wo „etwas los war“. Im übrigen war er ein muthiger Soldat und kein ungeschickter Offizier. Seinem organisatorischen Talent und seiner kriegsministerlichen Thätigkeit ist es hauptsächlich auf Rechnung zu schreiben, daß die Rothen Paris so lange gegen die Blauen zu halten vermochten. Er brachte Ordnung und Straffheit in den militärischen Dienst. Mit den aus Buchdruckern und Buchbindern zu „Generalen“ gewordenen Nullen machte er wenig Federlesens. Den Hohlkopf Bergeret, welchen die Kommune nach seiner kläglichen Feldherrnprobe vom 3. April zum Stadtkommandanten ernannt hatte, ließ er absetzen und verhaften, um den tüchtigen Polen Dombrowski auf diesen wichtigen Posten zu stellen. In einer unglücklichen Stunde ernannte Cluseret zum Generalstabschef den jungen, begabten, aber vom Ehrgeiz verzehrten und ränkesüchtigen Geniekapitän Rossel, welcher nach dem Falle von Metz sein den Deutschen gegebenes Ehrenwort gebrochen hatte und später von der dreifarbigen Fahne seines Landes zur rothen übergelaufen war, – ein Mensch, welcher den ihm später zutheil gewordenen Tod an dem rothen Pfahl auf der Ebene von Satory wohlverdient hat. Sofort nach seiner Bestallung fing er gegen Cluseret zu ränkeln und zu zetteln an und seinen Machenschaften ist es zweifelsohne in erster Linie zuzuschreiben, daß die Kommune am 30. April ihren Kriegsminister absetzen und verhaften ließ. An seine Stelle trat Rossel als provisorischer Kriegsminister. Weil er aber merkte, daß die übernommene Würde nur eine für seine Schultern viel zu schwere Bürde sei, warf er sein Ministerium schon am 9. Mai der Kommune vor die Füße. Darauf obligate Verhaftung des auflüpfischen Menschen, der aber mitsammt seinem Wächter, dem Kommunarden Gérardin, aus seinem provisorischen Arrest im Stadthause verduftete und spurlos verschwunden blieb bis zum 8. Juni, wo ihn die blaue Polizei in seinem pariser Versteck abfaßte.

Nach der mit Rossel gemachten Erfahrung wollte die Kommune von keinem Offizier mehr als Kriegsminister wissen und ernannte zum Delegirten beim Kriegswesen den Bürger Delescluze, genannt „der Alte vom Berge“, welcher dann die letzten Kämpfe und Krämpfe der Kommune im strengjakobinischen Stile von 1793 diktatorisch geleitet hat. Von jugendauf Verschwörer, hatte er gegen das Julikönigthum, gegen die Pseudorepublik von 1848, gegen das zweite Empire gekämpft und schwere Verfolgungen erlitten. Was er in französischen Gefängnissen und unter der Glutsonne von Cayenne ausgestanden, hatte seinen Leib ausgetrocknet und sein Herz zu Stein gemacht. Dieser lange, hagere, bleiche Graubart sah aus wie der verkörperte Gedanke von Robespierre. Zudem, was hatte er zu verlieren? Nichts. Am 18. März begegnete ein Bekannter dem Bürger Delescluze auf der Straße und äußerte besorgnißvoll: Und wenn nun die Preußen sich dreinmischen und Paris in Brand schießen?“ – „Mir ganz egal,“ gab der Alte vom Berge zur Antwort; „ich bin nicht Hausbesitzer.“




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_179.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)