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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 11.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


„Ich geize mit meiner Zeit und habe mir deshalb ein wenig Flinkheit angewöhnt,“ sagte die Frau Diakonus lächelnd. „So werde ich ziemlich rasch mit meinen Hauspflichten fertig. Ich habe über sehr viel Mußestunden zu verfügen und bin so glücklich – was viele andere stark beschäftigte Hausfrauen nicht können, nicht dürfen – an meiner geistigen Fortbildung nach Kräften arbeiten zu können. Im vergangenen Winter z. B. habe ich mir die Aufgabe gestellt, die Bibel vom ersten bis zum letzten Worte, in der Reihenfolge, durchzulesen –“

„Um des geistigen Trostes willen?“ fragte Flora.

„Deshalb nicht – ich bin bibelfest genug, um die Stellen auswendig zu wissen, an die ich mich im Leben zu halten pflege, aber der heiße politisch-religiöse Streit, der jetzt die Welt bewegt, geht auch die Frau an, und wenn man auch nicht zu den Waffen greifen kann, so gilt es doch, sich aufrichtig bekennend einer der Phalangen einzureihen, die hinter den Vorkämpfern stehen, und das kann man nur, wenn man einmal von Allem, was Schule und Predigt überliefern, absieht und möglichst vorurtheilslos an die heilige Schrift herantritt.“

Flora sah ihr mit grenzenlosem Erstaunen, weit offenen Auges in das Gesicht. Die ganze Bibel durchlesen, um der Ueberzeugung willen! Wie entsetzlich trocken und uninteressant! Dazu fehlte ihr, der Poesiereichen, die Geduld. Daß sie sich selbst mit Vorliebe der Welt gegenüber als den ernst grübelnden, forschenden Geist aufspielte, vergaß sie vollständig in diesem Momente, wo sie sich über die unvermuthete geistige Beschäftigung „der strümpfestopfenden, unermüdlich backenden und scheuernden Frau“ gründlich ärgerte. Wie kam denn die dazu, die Pfarrerswittwe, sich auch um die Welthändel zu kümmern? Ah, nun wußte man auch, wer den Doctor verdarb, wer ihm das lächerliche Ideal aufstellte, nach welchem die Frau Köchin und „geistige Gehülfin“ zugleich sein konnte.

Käthe war längst hinzugetreten und hatte der Tante das Präsentirbrett abgenommen. Mit klugem Blicke verfolgte sie die steigende Bewegung in den schönen Zügen der Schwester – sie wußte, daß sie sich zu irgend einer rücksichtslosen Aeußerung hinreißen lassen würde; deshalb bot sie ihr schleunigst den Thee an.

Flora pflückte ungeduldig mit ihren zarten Fingerspitzen an dem Taschentuche auf ihrem Schooße und dankte sichtlich verstimmt, „weil sie noch sehr alterirt sei, um etwas über die Lippen bringen zu können“, wenige Minuten darauf aber sah das junge Mädchen, wie sie eine Bonbonnière aus der Tasche zog und sich mit Eisbonbons erquickte; sie vermied es geflissentlich, in diesem Hause etwas anzunehmen. Sie wollte absolut keine Gemeinschaft mehr mit ihm. Käthe erkannte sehr wohl, daß die treulose Braut mit dem Eintritte in das alte Haus, in die einfach bürgerliche Fremdenstube den letzten Rest von Selbstbeherrschung und erkünstelter Ruhe verloren hatte; sie las in den großen, graublauen, vor verzehrender Ungeduld funkelnden Augen, daß sie dem Momente nahe gekommen sei, wo sie „endlich das Joch abschütteln wolle, abschütteln um jeden Preis“. Durch die Seele der jungen Schwester zog es wie ein inbrünstiges, angstvolles Gebet, daß nur hier, im eigenen Heim des unglücklichen Mannes, die furchtbare Entscheidung nicht erfolgen möge. Zum Glück bemerkte die alte Frau Flora’s häßliches Gebahren nicht; sie trug, ahnungslos, daß über ihrem hellen friedlichen Stillleben eine schwarze, unglückbringende Wolke hing, das Geschirr wieder hinaus, nachdem Käthe eine Tasse Thee dankbar angenommen hatte.

Das glühende Abendlicht verblaßte allmählich. Alle Purpurfarbe zog sich aus dem Krankenzimmer zurück und blieb zuletzt nur noch auf der schönen Dame im Fenster liegen – wie ein von dämonischem Feuer umzüngelter böser Engel saß Flora dort.

Die Kranke wurde unruhiger. Sie zupfte und zerrte an der grünseidenen Bettdecke und war sichtlich bemüht, sie fortzuwerfen. „Im Grün ist Arsenik – fort damit!“ flüsterte sie mit der ganzen unheimlichen Hast und Angst des Fiebers vor sich hin.

Käthe vertauschte sogleich die seidene Decke mit der kühlen, weißleinenen des Gastbettes und glättete sie über dem armen hageren Körper, den sie heute im Walde „den Zwerg“ genannt hatten. In den wunderschönen Augen der Kranken lag in diesem Augenblicke keine Spur von Verständniß. Sie rollten wild und wirr unter den halb zugesunkenen Lidern.

„Das thut gut,“ sagte sie, sich unter der Decke streckend. „Und nun lasset sie nicht wieder herein, wenn sie mich mit der vergifteten, heißen Seide ersticken will! Die Großmama ist falsch, wie Alle, die sich im Salon anlügen – sie und der alte Giftmischer, die große Autorität. Ich werde nach ihm schlagen, wenn er seine abscheulichen Finger auf meine Brust drückt,“ zischte sie erbittert durch die Zähne. Sie setzte sich plötzlich auf und ergriff Käthe’s Hand. „Nimm Dich vor ihm in Acht, Bruck!“ warnte sie mit aufgehobenem Finger, „und vor der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_173.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)