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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

bodenlosen Eigensinn“ zu unterdrücken; allein sie ging ohne Widerrede, um den Wunsch der Kranken zu erfüllen. Sie kam auch durchaus nicht zu früh, wie sie gefürchtet. Der Herr Medicinalrath hatte jedenfalls von den Beobachtungen des jungen Arztes keinen Gebrauch zu machen gewußt, und noch weniger war er auf eine Berathung eingegangen – er setzte sich eben an den Arbeitstisch des Doctors, um ein Recept zu verschreiben.

Doctor Bruck verließ sofort das Zimmer, und die Präsidentin trat zu ihrem alten Freunde, um sein Urtheil zu hören. Er war ziemlich spitz und verstimmt, sprach von total verfehlter Behandlung des Leidens und warf den Vorwurf hin, daß man immer erst in den gefährlichsten Momenten „vor die rechte Schmiede gehe“. Die Großmama habe längst Henriettens eigensinniges Köpfchen brechen und den alten Hausarzt, der sie doch in ihrer Kindheit behandelt, zu Rathe ziehen müssen. In solchen Fällen sei eine Rücksicht, wie die auf Flora’s Bräutigam genommene, geradezu gewissenlos. „Vor allen Dingen müssen wir jetzt sehen, daß wir das arme Kind so schnell wie möglich in sein eigenes, bequemes und elegantes Schlafzimmerchen bringen, meine Gnädigste,“ setzte er hinzu. „Sie wird sich in ihrer gewohnten Umgebung wohler fühlen; auch bin ich dann sicher, daß meine Anordnungen strict befolgt werden, was hier voraussichtlich nicht der Fall sein würde.“

Er tauchte die Feder ein – da fiel sein Blick auf ein geöffnetes, elegantes Kästchen, das mitten unter den Büchern und Schreibmaterialien stand; es mochte kaum erst ausgepackt worden sein, denn die Emballage lag noch daneben.

Die Frau Präsidentin hatte das blühende Gesicht ihres „bewährten Freundes“ noch nie so lang, noch nie so unbeschreiblich, bis zur Geistlosigkeit verdutzt gesehen, wie in diesem Augenblicke, wo ihm die Feder aus der Hand fiel.

„Mein Gott, das ist ja der herzoglich D.’sche Hausorden,“ sagte er und tippte mit scheuem Finger an das Kästchen. „Wie kommt denn der in dieses Haus, an diese obscure Adresse?“

„Merkwürdig!“ murmelte die Präsidentin betreten. Ueber ihre bleiche Haut flog das schnelle Roth einer jähen, unliebsamen Ueberraschung. Sie hielt die Lorgnette vor die Augen und musterte eifrig den Inhalt des Kästchens. „Ich kenne den Orden und seine Bedeutung nicht –“

„Das glaube ich gern, wird er doch selten genug verliehen!“ fuhr der Medicinalrath dazwischen.

„Sonst möchte ich behaupten, die Decoration rühre noch vom letzten Feldzuge her,“ vollendete sie.

„Denken Sie nicht d’ran!“ polterte er heraus – er mußte in sehr aufgeregter Stimmung sein, da er diesen Ton anschlug. „Erstens ist der Orden nur gestiftet für Leistungen, die dem Fürstenhause persönlich gelten, und dann möchte ich den Mann sehen, der eine solche Auszeichnung jahrelang besäße, ohne daß die Welt es erführe. … Eh – wenn ich nur das Motiv wüßte, das Motiv!“ Er rieb sich unablässig wie geistesabwesend die Stirn mit der Rechten, an der mindestens drei fürstliche Huldbeweise in Brillantenfeuer glänzten – was galten sie ihm in diesem Augenblicke! Es waren Geschenke, die ihm seine fürstlichen Herrschaften von den Reisen mitgebracht, keine Auszeichnung fremder Höfe.

„Gerade dieser Orden ist das Ziel vieler Wünsche,“ fügte er hinzu; „manche hochgestellte Persönlichkeit hat sich schon vergeblich darum beworben, und nun liegt er hier, wie achtlos aus der Hand geschoben, auf diesem erbärmlichen, angestrichenen Arbeitstische. Und jenem Menschen, jenem Ignoranten, der sich durch seine Mißerfolge so gründlich blamirt hat – Pardon, meine Gnädigste! aber das muß heraus – ihm wird er an den Hals geworfen, und man hat nicht die blasse Ahnung, wofür.“

Er war aufgesprungen und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer. Die stolze Frau, die sich sonst durch Nichts so leicht aus der Fassung bringen ließ, verfolgte ihn jetzt mit ziemlich ängstlichen, rathlosen Blicken. „Ich kann mir nicht denken, daß die Decoration mit seinem ärztlichen Wirken zusammenhängt,“ warf sie unsicher hin; „wie käme er denn auch an den D.’schen Hof?“

Der Medicinalrath blieb stehen und lachte laut auf, aber es war ein gewaltsam erzwungenes Lachen. „Nun, das muß ich sagen, Sie sprechen da etwas aus, meine Gnädigste, was mir nun und nimmermehr in den Sinn gekommen wäre, weil es einfach – unmöglich ist. Es müßten sich denn alle Dinge der Welt plötzlich auf den Kopf gestellt haben, so daß die Stümperei und Unwissenheit bei unreifen Strebern ausgezeichnet und das gediegene Wissen, die gereifte Erfahrung, das wahre Verdienst mit Füßen getreten würde. Nein, daran denkt meine Seele nicht.“ – Er trat an ein Fenster und trommelte mit den Fingern auf dem Sims. „Wer weiß denn, welcher Mission er sich unterzogen hat! Er war ja für acht Tage verschwunden, und Niemand wußte wohin,“ sagte er nach kurzem Verstummen in gedämpftem Ton über die Schulter zurück. „Hm, wer kennt denn seine Beziehungen außerhalb? Solche Duckmäuser, die nie von sich und ihrem Berufe sprechen, haben stets ihre guten Gründe – es kommen ja in der ärztlichen Praxis genug Dinge vor, zu denen sich achtbare Leute nicht hergeben. Nun, ich schweige. Es ist nie meine Sache gewesen, von den dunkeln Umtrieben Anderer den Schleier zu heben; es geht ja schließlich doch Alles seinen Weg, wie der da droben es will.“ Er zeigte himmelwärts mit so gutgespieltem Gottvertrauen, daß es ihm nur seine intimste Freundin, die Frau Präsidentin, nicht glaubte; er wurde stets fromm und weich, wenn er sich zurückgesetzt oder in irgend einem Vorrecht verkürzt wähnte.

Er setzte sich wieder an den Tisch und schrieb das beabsichtigte Recept, aber so hastig und flüchtig, als sei in dem fatalen Kästchen neben ihm ein Brennpunkt, der ihm die Finger versenge. „Um Eines bitte ich Sie, meine verehrte Freundin,“ sagte er einen Augenblick innehaltend, „suchen Sie der Sache ein wenig auf den Grund zu kommen! Ich möchte gern au fait sein, ehe Bruck Lärm schlägt mit seiner zweifelhaften Auszeichnung – man kann nöthigenfalls pariren. … An Ihre diplomatische Feinheit brauche ich selbstverständlich nicht zu erinnern; die steht hoch über jedem Zweifel.“

Die alte Dame antwortete im ersten Augenblicke nicht; sie hatte ihn, so lange er seine zierlichen, mysteriösen Schriftzüge auf das Papier warf, nachdenklich beobachtet und finden müssen, daß der Freund plötzlich merkwürdig gealtert habe. Nicht etwa, daß Runzeln seine blühenden Wangen durchfurcht hätten – noch sah er wohlbeleibt und glatt aus, aber ein undefinirbares Gemisch von Besorgniß, von Niedergeschlagenheit und mürrischem Verdrossensein sprach in diesem Moment des Sichgehenlassens aus allen seinen Gesichtslinien; er sah aus wie ein Mensch, dem ein heimlich verstimmender Gedanke die Freuden des Tages beeinträchtigt und den Schlaf stört. Und sie erinnerte sich jetzt, daß er in der letzten Zeit hier und da ganz feine Andeutungen über fürstliche Launen hingeworfen hatte. Himmel, wenn sie diesen Freund verlor! Damit meinte sie durchaus nicht seinen Heimgang aus diesem irdischen Leben – sie dachte überhaupt nie an’s Sterben – sie verlor ihn nur durch seine Pensionirung; er konnte ihr nichts, gar nichts mehr sein bei Hofe, und wie sich dann Alles ändern würde, das mochte sie gar nicht ausdenken. Bah, warum denn auch? Der gute Medicinalrath aß gar zu gern Trüffeln und andere gute, aber schwerverdauliche Dinge, und starke Weine und schweres Bier liebte er auch – er begann hypochondrisch zu werden; er fing Grillen und sah Gespenster; sie mit ihren feinen Fühlfäden spürte es stets lange vorher, wenn eine Macht bei Hofe stürzen sollte, diesmal aber hatte auch nicht das leiseste Wehen eines Lüftchens die Schwenkung der reizbaren Wetterfahne angezeigt.

„Aber, bester Medicinalrath, wer sagt Ihnen denn, daß die Decoration überhaupt für den Doctor selbst bestimmt ist?“ fragte sie mit der ganzen Zuversicht der erfahrenen Weltdame. „Ich glaube nicht daran, weil ich mit dem besten Willen den Zweck nicht einsehe. Uebrigens mag die Sache zusammenhängen, wie sie will, ihm wird sie in unserer Residenz nichts nützen, denn da ist er ein- für allemal so gut wie todt. Ich will Ihnen gern den Gefallen thun und nachforschen, lediglich zu Ihrer Beruhigung –“ sie verstummte; im Nebenzimmer knarrte eine Thür; die Frau Diakonus kam herein, um etwas aus ihrer Commode zu holen.

Der Medicinalrath erhob sich und übergab der Präsidentin das Recept; dann gingen Beide durch das Zimmer, wo die Tante eben den Kasten wieder schloß. Am liebsten hätte der Medicinalrath seiner Unruhe jetzt gleich ein Ende gemacht und im Vorübergehen mittelst einer schalkhaften Bemerkung eine aufklärende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_159.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2018)