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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Haare und Augenbrauen, blaue, ein wenig in’s Graue spielende Augen, längliches, mageres Gesicht, frische Farben, feingeformte Nase, großen Mund, die Zähne unregelmäßig, namentlich einen Doppelzahn, und war von überraschender geistiger Begabung. Er reiste Anfangs August 1773 in Begleitung eines jungen Mannes von Toulouse ab, angeblich um in dem Badeorte Bagnères Heilung für seine Taubheit zu suchen, war aber seitdem nicht wieder gesehen worden. Seine Mutter starb im November oder December 1773; seine Schwester befindet sich zur Zeit in einem Kloster zu Toulouse.“

Der Taubstummenlehrer wurde betroffen von der auffallenden Aehnlichkeit dieses Signalements mit dem seines Schützlings, besonders wenn man die während dreier Jahre nothwendig eingetretenen Aenderungen in Anrechnung brachte. Die Zähne allerdings standen jetzt regelmäßig, aber dies erklärte sich daraus, daß der Doppelzahn des Knaben entfernt worden; der Mund freilich erschien weder groß noch klein, doch dies konnte nicht Wunder nehmen: bei mageren Gesichtern zeigt der Mund sich größer, jetzt aber war der Knabe wohlgenährt und hatte nicht mehr ein längliches und mageres, sondern ein volles regelmäßiges Gesicht.

Trotz alledem verbleibt der Abbé in Unthätigkeit mit Bezug auf die Nachforschungen nach der Herkunft seines Schützlings und klagt sich selbst der Nachlässigkeit deshalb an, entschuldigt dieselbe jedoch einigermaßen dadurch, daß er eine neue Falle fürchtete, wie diejenige, durch welche der Knabe für Louis Le Duc erklärt werden sollte. Auch hatte er von dem Steuerbeamten Leroux Nachrichten erhalten, wonach das Kind aus Lüttich oder Namur stamme. Zwei Bauern nämlich aus Orvillé hatten Folgendes bekundet: am 17. oder 18. Juli 1773 war der eine von ihnen beim Einbruche der Nacht von zwei Bettlern um Herberge angegangen worden. Einer der Bettelnden war taubstumm. Man ließ sie in einem Stalle nächtigen. Dieser wurde am nächsten Morgen offen gefunden, der größere der Bettler war verschwunden, der kleinere – der taubstumme – allein zurückgeblieben. Ihn hatte der Bauer, bei welchem sie übernachtet, eine Woche lang im Hause behalten. Sodann nahm ihn der andere der Zeugen zu sich und verpflegte ihn, bis er, der Zeuge, in Cuvilly ein Geschäft hatte. Dorthin folgte ihm der Taubstumme, welcher zutraulich sich ihm angeschlossen hatte. Aber der Bauer ging, wohl absichtlich, schneller als dem Knaben möglich war, und so blieb dieser auf der Landstraße allein zurück, wo ihn der Steuerbeamte Leroux dort fand.

Auch nach dieser einfachen und bündigen Erklärung hielt der Abbé de l’Epée an dem ihm angenehmen Gedanken fest, einen so vornehmen Zögling, wie den jungen Grafen de Sollar bei sich zu haben, und beschloß, auf den Augenblick zu warten, wo es der Vorsehung gefallen würde, die Wolken zu zerstreuen und das Dunkel der Herkunft seines Schützlings zu lichten. Im Jahre 1780 ließ die Kaiserin Katharina die Zweite von Rußland durch ihren Gesandten den Abbé wegen seiner schönen erfolgreichen Thätigkeit beglückwünschen und ihm ein beträchtliches Geschenk anbieten. „Niemals,“ lautete die Antwort des Abbé, „niemals nehme ich Geld an. Sagen Sie Ihrer Majestät: wenn meine Arbeiten einigen Anspruch auf ihre Achtung haben, so ist Alles, was ich erbitte, daß die Kaiserin mir einen Taubstummen von vornehmer Abkunft sendet.“

Weshalb nicht wenigstens die Schwester des jungen Sollar in Toulouse, wenn auch nur brieflich, befragt wurde, ist nirgends gesagt. Im Jahre 1776 wurde, nach des Abbé de l’Epée Versicherung, ein Entführungsversuch gegen seinen Schützling unternommen. Ein Officier der Gensd’armerie aus Toulouse bat, ihm den Knaben auf kurze Zeit anzuvertrauen: wenn der Letztere wirklich der Sohn des Grafen von Sollar sei, so werde derselbe sofort von einer großen Anzahl von Personen wieder erkannt werden. Die Herausgabe des „durch die Vorsehung ihm anvertrauten Gutes“ wurde nicht nur von dem Abbé verweigert, sondern dieser wandte sich auch an den Minister mit der Bitte, einen hierauf bezüglichen Befehl nicht zu erlassen. Da nun der Minister erwiderte, er habe die diesfällige Ordre nicht gegeben, so schloß der Abbé, daß der Polizei-Officier durchaus nicht gewesen, was er durch Anlegung der Uniform habe scheinen wollen, sondern ein verkleideter Unbekannter, welcher die Absicht gehabt, das unglückliche Kind bei Seite zu schaffen. Es scheint vergessen worden zu sein, daß auf die Ermittelung der Herkunft des Taubstummen reichliche Belohnung verheißen worden und jener Beamte sehr wohl auf eigenen Antrieb konnte gehandelt haben.

Nach Verlauf längerer Zeit wohnte – im Juni oder Juli 1777 – eine junge Dame, was nicht selten geschah, dem Unterrichte der Taubstummen bei. Als sie des inzwischen „Joseph“ genannten Knaben ansichtig wurde, sagte sie, jedoch ohne irgend ein Zeichen der Ueberraschung oder des Erstaunens, vielmehr ganz einfach, wie etwas, das sich von selbst versteht: „Da ist der Sohn des Grafen von Sollar.“ Der Taubstumme selbst war nicht in der Nähe der Dame gewesen, sondern hatte im Nebenzimmer mit anderen Kindern gespielt und erfuhr erst später, was inzwischen vorgegangen. „Da“ – erzählt der Abbé de l’Epée – „erwachte Joseph wie aus tiefem Traume. Man ließ die Dame bitten, ihren Besuch zu wiederholen, und fragte sie, welchen Beweis sie für die Richtigkeit ihrer Behauptung geben könnte. Sie antwortete, daß sie den Knaben ganz genau kenne. Sie habe längere Zeit als Gesellschafterin bei Fräulein Desgodets, einer Großtante des Kindes, gewohnt und ihn – er war damals sieben bis acht Jahre alt – wöchentlich mindestens einmal gesehen, wenn er aus seiner Pension auf der Insel St. Louis zum Besuche gekommen.“

Joseph wurde von den beiden Inhaberinnen jener Pension, Mutter und Tochter, als der junge Sollar wieder erkannt, ebenso von der Magd eines Großoheims des Knaben. Aus derselben Quelle schöpfte der Abbé auch die Nachricht, daß der junge Sollar zu Clermont im Beauvais geboren sei, wo seine Verwandten mütterlicher Seite noch lebten. Der Taubstummenlehrer und sein Zögling begaben sich nach Clermont, und der Letztere wurde von neunundzwanzig Personen verschiedenen Alters und Standes als der Sohn des Grafen von Sollar bezeichnet. Nach der Rückkehr erfolgte seine Anerkennung auch in Paris durch den hier lebenden und bisher noch nicht befragten Vater der Gräfin von Sollar. Dies geschah im October 1777.

Der königliche Procurator am Châtelet hatte jetzt, durch die öffentlichen Blätter aufmerksam gemacht, die Sache in die Hand genommen. Er beantragte Untersuchung gegen die Urheber der Entführung und der Aussetzung des „taubstummen Grafen von Sollar“. In Folge dessen gab der Criminal-Lieutenant Befehl, den Sieur Cazeaux zu verhaften, nämlich denjenigen jungen Schreiber, welcher in dem Briefe der Madame de Hauteserre bezeichnet war als Begleiter des Knaben auf der Reise von Toulouse nach Bagnères.

Cazeaux wird in Toulouse am hellen Tage unter dem Zusammenlauf einer wüthenden Volksmenge verhaftet, nach dem Stadthause geschleppt, in das abscheuliche Gemach geworfen, welches, „la miséricorde“ genannt, eine Anzahl zum Tode verurtheilter Verbrecher enthielt. Wieder bei hellem Tage wird er, an Händen und Füßen mit Ketten belastet, auf einen offenen Wagen gehoben und abgeführt, auch jetzt wieder mit Verwünschungen und Flüchen verfolgt von der Menge, welche schon aus dieser Art den Gefangenen zu transportiren den Beweis für seine Schuld abnimmt. Während der ganzen Fahrt ist Cazeaux mit Ketten an den Wagen, beim Aufenthalte in den Herbergen ebenso an einen Tisch oder einen Pfahl geschlossen. Man begafft ihn überall wie Einen, welcher zum Rad oder Scheiterhaufen geführt wird.

Endlich kommt Cazeaux in Paris an und wird im Châtelet in Einzelhaft gebracht. Sechs Tage vergehen, ohne daß er nur verhört wird. In den nächsten drei Wochen aber hat er sechs Verhöre von je sechs bis acht Stunden zu bestehen. Seine Unbefangenheit, die Klarheit seiner Antworten erweckt in den Richtern den Gedanken, der Verhaftete sei wohl unschuldig. Der Bischof von Comminges, in dessen Diöcese Cazeaux gewohnt hat, nimmt sich des jungen Mannes an und setzt es durch, daß demselben ein erträgliches Gelaß im Gefängnisse angewiesen wird. Jetzt kann er sich vertheidigen. Er erklärt: 1) Das Kind, welches er angeblich auf der Heerstraße bei Péronne ausgesetzt habe, ist im Januar 1774 zu Charlas in der Diöcese von Comminges gestorben, und er belegt diese Angabe durch Berufung auf einen amtlichen Todtenschein aus den Kirchenbüchern der Gemeinde; 2) es sei jedoch überflüssig eine solche Urkunde herbeizuschaffen, da der Schützling des Abbé de l’Epée unmöglich mit dem jungen Grafen von Sollar identisch sein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_134.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)