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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Gleich darauf kam er die Stufen herab. Mit dem prächtig niederwallenden Bart, der breiten Brust und den gemessen edlen Bewegungen war und blieb er eine Gestalt, die man sich eigentlich nur in Uniform denken mochte, und wenn auch nur im grünen Waidmannsrocke. Er reichte dem jungen Mädchen das Glas mit einer höflichen Verbeugung.

Sie nahm die Blumen heraus. „Es sind die ersten, kleine, vorwitzige Dinger, die nicht schnell genug in die scharfe Aprilluft herauskommen können,“ sagte sie lächelnd. „Man muß sich vielmal bücken und sie mühsam zusammensuchen, freut sich dann aber auch mehr daran, als an einem ganzen Treibhaus voll Blumen.“ – Nun erst war sie beruhigt; nun glaubte er ganz gewiß nicht mehr, daß sie auf die neue Verwandtschaft hin seinen Schreibtisch plump vertraulich attaquirt habe.

Jetzt erschien auch die Tante am offenen Fenster. Sie entschuldigte sich und bat das junge Mädchen in warmen Worten, recht oft zu kommen.

„Fräulein Käthe geht ja schon in wenigen Wochen nach Dresden zurück,“ antwortete der Doctor fast hastig an Käthe’s Stelle.

Sie stutzte. Hatte er Furcht, sie werde bei ihren Besuchen mit der ahnungslosen alten Frau über sein seltsames Verlobungsverhältniß sprechen? Diese Annahme verdroß sie, aber er that ihr so leid um seiner inneren Leiden willen, die er so streng in seiner Brust verschloß. Und sie konnte ihn nicht einmal beruhigen.

„Ich werde länger bleiben, Herr Doctor,“ versetzte sie ernst. „Ja, es ist leicht möglich, daß sich mein Aufenthalt in Moritzens Hause über viele Monate ausdehnt. Als Henriettens Arzt werden Sie ja am besten beurtheilen können, wann ich meine kranke Schwester ohne Sorge verlassen und zu meinen Pflegeeltern zurückkehren kann.“

„Sie wollen Henriette pflegen?“

„Wie es sich von selbst versteht,“ ergänzte sie. „Schlimm genug, daß ihre Pflege bis heute ausschließlich in fremden Händen gewesen ist. Die Arme verbringt ihre Nächte lieber hülflos, als daß sie sich entschließt, Beistand herbeizurufen, weil die sauren, mürrischen Mienen der verschlafenen Gesichter sie beleidigen, weil sie zu stolz und vielleicht auch zu krankhaft reizbar ist, um sich ihre Abhängigkeit von Untergebenen so fühlbar machen zu lassen. Das darf nicht mehr vorkommen – ich bleibe bei ihr.“

„Sie denken sich die Aufgabe jedenfalls viel zu leicht – Henriette ist sehr krank;“ er strich sich mit der Hand so langsam über die Stirn, daß die Augen für einen Moment nicht sichtbar waren; „es werden schwere, bange Stunden zu überwinden sein.“

„Ich weiß es,“ sagte sie leise und tiefe Blässe deckte secundenlang ihr Gesicht. „Aber ich habe Muth –“

„Daran zweifle ich nicht,“ unterbrach er sie, „ich glaube ebenso an Ihre Geduld wie an Ihre ausdauernde Barmherzigkeit, aber es läßt sich nicht ermessen, bis zu welchem Zeitpunkt die Kranke – keine Pflege mehr brauchen wird. Deshalb darf ich nicht zugeben, daß Sie die Sache so energisch in die Hand nehmen. Sie können es physisch nicht durchsetzen.“

„Ich?“ Sie hob und streckte unwillkürlich ihre Arme und sah stolzlächelnd auf sie nieder. „Kommt Ihnen Ihre Befürchtung nicht selbst unmotivirt vor, wenn Sie mich ansehen, Herr Doctor?“ fragte sie mit einem heiteren Aufblick. „Ich bin von derbem Schrot und Korn; ich bin nach meiner Großmutter Sommer geartet; die war ein Bauernkind, oder vielmehr ein Holzhackerstöchterlein, ist barfuß gelaufen und hat die Axt im Walde besser geschwungen als ihre Brüder – ich weiß es von Suse.“

Er sah von ihr fort zum offenen Fenster hinüber; da stand die alte Frau Diaconus selbstvergessen hinter ihren Hyacinthen und Narcissen, und ihr Blick hing wie verzaubert an dem Mädchen. – Sein Gesicht verfinsterte sich auffallend.

„Es handelt sich weniger um die Stahlkraft der Muskeln,“ sagte er ausweichend. „Ein solches Pflegeramt mit seinen Aufregungen und Aengsten richtet sich feindlich gegen das Nervenleben – übrigens,“ unterbrach er sich, „steht es mir ja gar nicht zu, bestimmend auf Ihre Entschlüsse einzuwirken. Das ist Sache Ihres Vormundes. Moritz soll entscheiden; er wird voraussichtlich darauf bestehen, daß Sie zur festgesetzten Zeit in das Haus Ihrer Pflegeeltern zurückkehren.“ Der Doctor sprach die letzten Worte, ganz gegen seine gewohnte Milde und Gelassenheit, ziemlich schroff.

Die Tante zog sich unwillkürlich tiefer in das Zimmer zurück; Käthe dagegen blieb ruhig stehen „Aber warum denn so unbeugsam, Herr Doctor? Warum wünschen Sie denn, daß Moritz gar so hart mit mir verfährt?“ fragte sie mädchenhaft sanft. „Will ich denn Böses? Und sollte Moritz wirklich die Befugniß zustehen, mich von der Erfüllung meiner schwesterlichen Pflicht abzuhalten? Ich glaube es nicht. … Nun weiß ich aber einen Ausweg: Veranlassen Sie Henriette, mich nach Dresden zu begleiten! Dort theile ich mit meiner Doctorin die Pflege der Patientin; das wird doch meinen Nerven nicht schaden?“ Sie lächelte ganz leise.

„Gut – ich werde einen Versuch machen,“ sagte er sehr bestimmt.

„Dann gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich so bald wie möglich auf- und davonfliegen werde,“ versetzte sie ebenso fest mit einem sprechenden Blick, vor dem er, wie auf einem Unrecht ertappt, die Augen niederschlug.

Die Tante bog sich plötzlich aus dem Fenster und sah dem Doctor erstaunt und beweglich in das Gesicht – er war ja merkwürdig schweigsam. Da stand er nun und löste einige verdorrte Weinranken vom Spalier, die der Zugwind hin- und herschaukelte, und sagte keine Silbe mehr.

„Gehen Sie denn so gern?“ fragte die alte Frau sichtlich verlegen mit liebreichem Vorwurfe.

Käthe zog eben den in den Nacken gesunkenen Schleier wieder über den Kopf und knüpfte ihn fest unter dem Kinn. Wie eine Pfirsichblüthe leuchtete ihr Gesicht aus dem dunkeln Gewebe. „Soll ich aus Höflichkeit ‚Nein‘ sagen, Frau Diaconus?“ fragte sie lächelnd zurück. Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich bin leidlich vernünftig für die Welt und ihre Dinge, wie sie nun einmal sind, erzogen, aber all’ und jede Caprice der Individualität fegt auch die strengste Zucht nicht aus den Seelenwinkeln. Ich stehe z. B. der Großmama meiner Schwestern heute genau so verwunderlich fremd gegenüber, wie damals, wo ich ihr auf Befehl meines Vaters die Hand küssen mußte; ich stoße mich insgeheim consequent an Ecken und Eckchen, die für Andere nicht da sind und welche mich schon als Kind gequält und beunruhigt haben. Und wie durchkältet ist mein Vaterhaus!“ – sie schauerte – „man steht mit seinen warmen Füßen auf zu viel Marmor. Dazu ist Moritz ein so entsetzlich vornehmer Mann geworden“ – zwei schelmische Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen – „man erschrickt und schämt sich ja förmlich, wenn Einem die eigene kahle Visitenkarte vor die Augen kommt … ja, meine liebe Frau Diaconus, ich kehre herzlich gern nach Dresden zurück, vorausgesetzt, daß Henriette mich begleitet; außerdem“ – sie wandte sich, aus dem scherzenden Tone in einen sehr entschiedenen übergehend, wieder an den Doctor – „außerdem werde ich mein Möglichstes thun, mich in die gegebenen Verhältnisse zu schicken und zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß Moritz mich zwangsweise nach Dresden zu befördern versucht.“

Sie grüßte herzlich zu der alten Dame hinüber, verbeugte sich leicht gegen den Doctor und verließ den Garten, um doch noch in die Schloßmühle zu gehen, obgleich bereits der Abend hereinbrach.




8.


Und nun war es ganz dunkel geworden; auf dem Thurme der Spinnerei hatte es Sieben geschlagen, und Käthe saß noch in dem einen Bogenfenster der Schloßmühlenstube. Sie hatte zwar vorher auf Suse’s dringende Bitte hin den Wäscheschrank inspicirt; die Alte traute der Müllerfrau nicht, die pflegend ab- und zuging, und behauptete, nach schöner, „selbstgesponnener“ Wäsche mache „Jede“ lange Finger, dann hatte sie, wie bisher jeden Tag, die Abendsuppe gekocht und die Kranke zu Bett gebracht, die, wenn auch bedeutend wohler, doch noch sehr unbehülflich und schwach war. … Nun aber saß das junge Mädchen doch schon lange Zeit, die Hände feiernd im Schooße gefaltet, still in der Fensterecke und ließ sich von den Schatten des Abends förmlich einspinnen. So gut wurde es ihr drüben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_111.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)