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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Deutsch, hellten manche dunkle Punkte in selbstständiger Forschung auf und zerstreuten die Nebel, in welche sich der Staatsphilosoph von Berlin wohl oft absichtlich gehüllt hatte, und Baur’s, des großen Tübingers, Fackel leuchtete erst hell und weithin durch die dunkeln Gebiete der Religionsgeschichte, als er sie an Hegel’s Licht angezündet hatte. Andere bearbeiteten die Rechtswissenschaft, wieder Andere die Aesthetik mit glänzendem Talente im nämlichen Geiste, und die Geschichtsschreibung zumal nahm einen neuen Aufschwung, indem sie doch wesentlich von Hegel gelernt hatte, sich in den Geist der Zeiten liebend zu versenken und die Ereignisse in den großen Zusammenhang beherrschender Ideen zu stellen.

Für den Studirenden jener Zeit hatte die Bearbeitung der Hegel’schen Philosophie zu allgemeinem Gebrauche den ungemeinen Vortheil, daß er den Geist derselben in sich aufnehmen konnte, ohne sich lange mit der mühsamen und oft unerquicklichen Form herumzuschlagen, in welcher derselbe sich durch die Schriften des Philosophen selbst zum Lichte rang, daß er des Kerns habhaft werden konnte, ohne sich die Zähne und Lippen an der stachligen Schale zu verwunden. Das „Ansich und Fürsich und Anundfürsich“ hat mir wenig Kopfzerbrechens gemacht; die sogenannte dialektische Methode habe ich weder verstanden noch anzuwenden gesucht; um die Haltbarkeit des Details habe ich mich wenig gekümmert; es war das große Weltpoëm des Gedankens, das den Jüngling berauschte; es war der grandiose Wurf einer umfassenden, alles Wirkliche in sich schließenden Weltanschauung, was ihn fesselte und mit sich fortriß; die ganze Welt eine Offenbarung der Vernunft, des Einen ewigen Geistes, der die Natur zum Schemel seiner Füße und den Menschengeist zu seinem Throne gemacht hat, ein geordnetes Stufenreich aufsteigender Entwickelungen, die ihren ruhelosen Trieb in dem Geiste haben, welcher zugleich ihr Grund und ihr Zweck und Ziel ist, der seine Wesensfülle ausbreitet von der Natur an, dem noch gebundenen und verhüllten Geiste, bis zu der lichten Welt der Freiheit und Vernunft im Menschen, und hier wieder stufenweise aufsteigend im Gewissen und Denken des Einzelwesens, dann in den Ordnungen und Sitten des Hauses, der Gesellschaft, des Staates, zuletzt in den höchsten Fernen seiner Erscheinung, in der Kunst, Religion und Philosophie, in welchen er sein eigenes Wesen anschaut und genießt. Daher die Welt ein ewiges Werden, ein ruheloser Proceß, ein Drängen von Stufe zu Stufe, steter Fortschritt und nie endende Entwickelung, ein sausender Webstuhl, an welchem das lebendige Kleid der Gottheit gewoben wird, weil jede Stufe der Weltentwickelung zwar eine Offenbarung des ewigen Geistes, aber unter den Bedingungen und in den Schranken der Zeit ist, jedoch diesem ruhelosen Processe fehlt das unverrückbare helle Auge nicht, der ordnende, gestaltende, sich ewig gleichbleibende und selige Geist, von dem, durch den, zu dem alle Dinge sind. Die ganze Welt eine Offenbarung der Vernunft – und die Völkergeschichte das Weltgericht oder der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; jede Nation die Trägerin einer Idee, an der sie untergeht, um ihren reifen Kern einer anderen, mit dem Dienste eines neuen Weltgedankens betrauten zu übergeben; die Völker, wie die Individuen, die auf dem Schauplatze der Weltgeschichte auftreten, gleichsam um den Thron des Ewigen geschaart als die Vollbringer seiner Gedanken und die Zierrathen seiner Herrlichkeit, in ihren blinden Leidenschaften und eigennützigen Bestrebungen wider Willen die Werkzeuge Dessen, der sie lenkt und ihr Thun in sein Lichtreich verwebt. Der einzelne Mensch zwar auf der einen Seite Geschöpf, eine verschwindende Welle im Ocean, eine selbstlose Erscheinungsform, aber doch zugleich ein Gefäß des Ewigen, der sich in allem Endlichen offenbart, ein Mitarbeiter Gottes, ein Missionär des Geistes, berufen, aus der Sinnlichkeit zur Vernunft, aus seiner Natürlichkeit zur Freiheit sich durch eine That des Geistes emporzuarbeiten.

Gewiß ein imponirendes, für eine phantasievolle Jugend bestechendes Weltbild! Dieser Philosoph schien alle früheren Systeme zugleich aufgelöst und erfüllt zu haben. Die Kluft, an welcher das Denken des Begründers der neueren Philosophie, Cartesius, gescheitert war, die Kluft zwischen Natur und Geist, der ausgedehnten und der denkenden Substanz, die nur äußerlich durch eine dritte, durch einen Deus ex machina, überbrückt war, schien hier ausgefüllt; der Dualismus löste sich auf in einen vollständigen Monismus des Gedankens und auch die Natur war Geist aus Geist. Spinoza’s Ein und Alles war hier gerettet, aber die Starrheit der Einen Substanz und die Unfreiheit der Dinge war aufgelöst in dem lebendigen Geist, an welchem die Wesen der Welt nicht ihre äußere Schranke, sondern ihr innerstes Gesetz, ihren eigenen Lebenstrieb haben. Leibnitzens Monaden, das heißt die Dinge der Welt als lebendige selbstthätige Wesen, von denen jedes das Universum in seiner Weise abspiegelt und die sich nur durch den Grad der Deutlichkeit ihrer Vorstellungen von einander unterscheiden, erschienen wieder in dem Stufenreiche der Vernunft, das sich von den gebundensten Formen der Natur an, in welchen der Geist gleichsam seufzend nach Licht ringt, immer höher und höher zur vollen Helle des Bewußtseins erhebt. Dem vorsichtigen Denken und Scheiden Kant’s gegenüber mochte diese Speculation immerhin wie ein Rausch aussehen, aber war sie nicht doch das letzte Wort seines Idealismus, indem sie die ganze Welt der äußeren Dinge nur als eine Abspiegelung des Geistes, als einen Ausdruck des Gedankens betrachtete? Und war der Gott, der hier verkündigt wurde, nicht eben derjenige, welchen die ganze neuere Philosophie oft im herben Kampfe, manchmal in schlecht geschlossenem Frieden mit der Kirche gesucht hatte, der Gott, den Goethe so treffend bezeichnet hat in dem Worte:

„Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm webt und lebt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“

Und war die Welt, deren Bild hier entworfen wurde, nicht eben diejenige, welche die ganze neuere Philosophie verlangte, ein gesetzmäßiges, aus eigenen innewohnenden Kräften handelndes, durch keine äußerlichen Eingriffe gestörtes Ganzes voll innerer Zweckmäßigkeit und Vernunft?

Ja, ein tief religiöser Zug schien durch diese Philosophie zu gehen. Der ewige Geist, von dem, zu dem alle Dinge sind, die Welt die Werkstatt seiner Gedanken, der Schauplatz seiner Weisheit und Güte, sodaß Alles recht und gut ist an seiner Stelle (alles Wirkliche vernünftig und alles Vernünftige wirklich, wenn man die Hegel’sche Paradoxie recht verstehen will), die Weltgeschichte ein Weltgericht, der Mensch aus der Nacht der Natürlichkeit sich emporringend zu Gott – da schienen sich alle Stimmungen und Forderungen der Religion mit Leichtigkeit anknüpfen zu lassen, und wenn man über den unfertigen, anfangs bacchantisch taumelnden Gott spottete, der erst warten muß, bis der Philosoph ihm ein Licht über sich selbst aufsteckt, so schien uns das ein tiefes Mißverständniß zu sein, zu welchem allerdings der Philosoph durch manche Aeußerungen Anlaß gegeben haben mochte. So tapfer wir uns gegen die sogenannte „Persönlichkeit“ Gottes wahrten, so sehr wir es mit Goethe hielten:

„Was soll doch euer Hohn
Ueber das All und Eine?
Der Professor ist eine Person;
Gott ist keine –“

so schien es uns doch selbstverständlich, daß der Geist, der schon der Natur die Spuren eines Alles zusammenschauenden Denkens aufgedrückt, der in den Bewegungen der Sterne Rechenexempel gelöst hatte, an welche aller menschliche Scharfsinn nicht hinanreicht, nicht erst beim Menschen die Klarheit über sich selber zu suchen habe.

Schenkte mir so die Philosophie eine Weltanschauung, bei welcher der denkende Geist trotz aller Knoten, die noch zu lösen waren, und aller Geheimnisse, die noch übrig blieben, im Ganzen ausruhen könnte, so verdankte ich ihrem Studium ein noch werthvolleres Gut: die Freude an der unabhängigen, niemals abgeschlossenen Forschung. Nichts in der ganzen Menschengeschichte war mir häßlicher und abscheulicher, als die Engherzigkeit der Theologen, welche der freien Forschung ihr unfehlbares Buch oder ihr fertiges Dogma entgegenstellen. Ich faßte einen rechten Widerwillen gegen die Kirche, welche sich ohne Unterschied, ob katholisch oder evangelisch, im Amte der Ketzerrichterin gefiel und gegen die Meinungen der Philosophen bald den Arm des Staates, bald die Wuth des Volkes aufrief. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_103.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)