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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Sie möchten ersäufen das grüne Land,

30
Begraben das Werk der Menschenhand,

Sie hassen die Form und die Weltvernunft,
Ersehnen des Chaos Wiederkunft,
Möchten in lebenvertilgender Schlacht
Stürzen das All in die alte Nacht.

35
     Aber es wüthet umsonst die Welle;

Wir jagen vorbei mit siegender Schnelle,
Und heute noch von des Rigi Spitzen
Seh’ ich die Häupter der Alpen blitzen,
Wie sie sich baden im Lichtazur,

40
Ein Wunder wie keins auf irdischer Flur.

Und wenn mir frohlockend die Seele schwillt,
Dann zaubr’ ich hervor ein anderes Bild:
In Schönheit strahlend und Harmonie
Steigt mir herauf vor der Phantasie

45
Reizumflossen die süßeste Frau,

Und weilt sie auch fern in nordischer Au,
Ihr Bild steht leibhaft vor mir da
Und ewig ist es im Geist mir nah,
Und berauscht von Natur und Menschenschöne,

50
Ergießt sich mein Herz in Jubeltöne

Und spottet der finsteren Urgewalten,
Die hassend verfolgen des Lichtes Gestalten,
Und höhnt, von Entzücken vollgesogen,
Euren Grimm, ihr Wogen.

55
Wohl weiß ich: einst werdet ihr siegen

Und wieder wie anfangs das Erdreich umschmiegen.
Was lebt, das bringt ihr in grimme Noth,
Und über den Erdball schreitet der Tod,
Die Sonne verliert einst Gluth und Glanz,

60
Es endet um sie der Planeten Tanz,

Sie neigen sich matt in den Sonnenball
Und verschwinden im All.

     Doch eh’ sie hereinbricht, die Weltennacht,
Flammt noch durch Aeonen des Himmels Pracht;

65
Die Erde rollt lang noch in sicheren Bahnen,

Und wie sie auch grollen, der Tiefe Titanen,
Die Schönheit bleibt sich’rer Besitz der Welt,
Und ehe der Erdball in Trümmer fällt
Und das Menschenauge, das letzte, bricht,

70
Geht manches Geschlecht noch am goldenen Licht,

Millionen noch schwelgen im Grün der Au,
Schau’n aufwärts von Bergen in’s Aetherblau,
Millionen noch werden aus Frauenaugen
Nimmerermess’nes Entzücken saugen

75
Und, selig durchglüht vom höchsten der Triebe,

Aufjauchzen in heiliger Liebe.

 Albert Moeser.



Bis zur Schwelle des Pfarramts.[1]
IV. 2. Unter den Philosophen.


Motto: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen zeitlebens gern unmündig bleibt und warum es Anderen so leicht wird, sich zu ihren Vormündern aufzuwerfen. Zur wahren Reform der Denkungsart, mag sie auch noch so langsam vor sich gehen, ist nur die Freiheit nöthig, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen.
  Kant.


Als wir nach Ablauf der Ferien wieder durch das Stiftsthor einzogen, lag nach einer traditionell gewordenen Studienordnung Kant’s Kritik der reinen Vernunft auf unserem Pulte aufgeschlagen. Das war nach dem Zuckerbrode der schönen Literatur eine harte und schwere Speise. Da galt es „Bretter bohren“, wie unser Präceptor sich ausgedrückt hatte. Bis man nur an diese schwerfällige Schreibweise sich einigermaßen gewöhnt hatte, bis man einige Uebung darin erlangt hatte, diese Lastwagen von Perioden ordentlich ab- und auszupacken, bis man sich des eigentlichen Sinnes dieses philosophischen Kauderwelsch, der wahren Bedeutung dieser fremdartigen Kunstausdrücke völlig versichert hatte, war schon ein großes und mühsehliges Stück Zeit vergangen. Aber nun erst das Ergebniß dieser scharfsinnigen, mit so viel Bedacht und Gewissenhaftigkeit geführten Untersuchungen! Es war Einem zu Muthe, wie wenn man gewaltsam an den Füßen gepackt und auf den Kopf gestellt wird. Kant muthete uns dieselbe umfassende Umwälzung der Denkweise zu, wie sie Copernikus seinen Zeitgenossen zugemuthet hatte. Copernikus hatte dem Menschen gleichsam die Erde unter den Füßen weggenommen und ihn in die ideale Mitte des Sonnensystems gestellt, um ihm von da aus ein Weltbild zu zeigen, welches dem Augenschein schnurstracks widersprach; Kant nahm dem Menschen die Dinge vor den Augen weg und versetzte ihn in den idealen Mittelpunkt seines Selbstbewußtseins, um ihm von hier aus die Welt in einem neuen, ungeahnten Lichte zu zeigen.

„Du meinst“ – so etwa sagt er zum Menschen – „die Dinge seien so, wie sie sich Deinen Sinnen darstellen? Täuschung! Was sie sind, sind sie nur durch Dich, durch Dein Auge, das ihr Bild so und so zurückspiegelt; was sie sind in einem ganz anders organisirten Auge, in dem Auge des Bewohners einer anderen Welt zum Beispiel, das wissen wir nicht. Du siehst die Dinge in Raum und Zeit, aber Raum und Zeit sind nichts

  1. Durch einen gerade sehr starken Andrang sogenannter Zeitartikel, deren Inhalt eine beschleunigte Veröffentlichung erforderte, sind wir in die Nothwendigkeit versetzt worden, den weiteren Abdruck der unter der obigen Ueberschrift im letzten Jahrgange der „Gartenlaube“ begonnenen Schilderungen für einige Zeit zu sistiren. Wir haben diese Unterbrechung einer so werthvollen und in weiten Kreisen der gebildeten Welt mit warmer und nachhaltiger Theilnahme begrüßten Artikelreihe sehr lebhaft bedauert, gänzlich fern aber mußte uns die Ahnung liegen, daß wir bei der Wiederaufnahme des Fadens vor einer so ernsten und schmerzlichen Pflicht stehen würden, wie es diejenige ist, der wir in diesem Augenblicke zu genügen haben. Es war ein in der vollen Blüthe frischester Vollkraft lebender und wirkender Mann der Wissenschaft und des freiheitlichen Kampfes, der erst im verflossenen Jahre auf unsere Bitte diese Erinnerungen aus seiner Jugendgeschichte niedergeschrieben und in ihnen ein bedeutsames Stück deutscher Cultur- und Geistesgeschichte so anziehend charakterisirt hat. Seinen Namen wollte er jedoch dabei vorläufig noch nicht genannt wissen – er hatte die Lösung dieses vielfach die Neugier erregenden Geheimnisses für einen ihm geeignet erscheinenden Moment sich vorbehalten. Ein schnell hereingebrochenes Verhängniß jedoch hat es anders gewollt; es hat ihn den Moment nicht erleben lassen, und wir glauben unsererseits nunmehr der Eingebung eines herzlichen Pietätsgefühls folgen und die oben mitgetheilte Fortsetzung nicht ohne die Bemerkung hinaussenden zu sollen, daß der Autor dieser persönlichen Eröffnungen und selbstbiographischen Aufzeichnungen kein anderer gewesen als Heinrich Lang, der freigesinnte Pfarrer in Zürich, der durch seine bahnbrechenden Zeitschriften weithin berühmte Vorkämpfer einer durchgreifenden Reform der Religion. Nach kaum zweitägiger Krankheit ist der rüstige Mann am 12. Januar jählings seinem schönen und segensreichen Wirken entrissen worden, und noch ist der Schmerz zu neu, noch zu groß die Erschütterung, welche die unerwartete Trauerkunde überall bei den Liberalen Deutschlands hervorgerufen hat, als daß schon gegenwärtig eine volle Würdigung des Hingeschiedenen erfolgen könnte. Unzweifelhaft fest aber steht für alle Kundigen, daß in ihm die deutsche Wissenschaft und Literatur eine leuchtende Zierde, die Sache der Freiheit und namentlich der religiösen Befreiung einen ihrer macht- und geistvollsten Vorkämpfer verloren hat.
    Lang war ein Deutscher von Geburt und hatte bis zu seinem Ende stets sehr innige Wechselbeziehungen mit Deutschland unterhalten. Durch die revolutionären Bewegungen von 1848 und 1849, an denen er sich betheiligt hatte, war er frühzeitig aus seiner schwäbischen Heimath in die Schweiz geworfen worden, die er seitdem nicht wieder dauernd verlassen hat. Als geborener Redner von großer und hinreißender Begabung, wollte er dem Kanzelberufe nicht entsagen; als ein ausgezeichneter Denker und Forscher mit tief religiösem Gemüthe wollte er für eine aufrichtige und entschiedene Versöhnung der Religion wirken mit allen Consequenzen der modernen Wissenschaft und Cultur. Diese mit kühnem Feuer und aller Energie eines gereiften Charakters von ihm ergriffene Aufgabe ist unablässig das Ziel seines Strebens geblieben, wie es in der treuen Arbeit für seine gleichgesinnte Gemeinde, in seinen Vorträgen, seinen wissenschaftlichen Werken und seinen berühmten Zeitschriften „Religiöse Zeitstimmen“ und „Reform“, sowie in seiner Eigenschaft als hervorragendes Mitglied des Deutschen Protestantenvereins sich dargestellt hat, dessen jährliche Hauptversammlungen durch den seltenen Gedankenreichthum seiner von tiefer Freiheitsgluth durchhauchten Predigten einen ganz besonderen Glanzpunkt erhielten. Auch die Redaction der „Gartenlaube“ betrauert in ihm einen geschätzten Mitarbeiter. Möge er sanft ausruhen von der Arbeit des gewaltigen Kampfes, aus dem ein vorzeitiger Tod ihn abgerufen hat! – Die noch restirenden Artikel zu dem Cyklus „Bis an die Schwelle des Pfarramts“ sind in unseren Händen und werden thunlichst schnell zum Abdruck gelangen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_101.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2019)