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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Mißbrauch der Versicherung. Noch sind alle Gemüther von der Schreckensbotschaft aus Bremerhaven erfüllt, wo ein für alle Zeiten gebrandmarkter Mörder so unendlich viel Unglück angerichtet hat. Und zwar ist es die Assecuranz, die jener Elende auszubeuten versuchte. – Ist es angesichts derartiger Vorkommnisse ein Wunder, wenn dabei so Mancher in kurzsichtiger Voreingenommenheit dem Versicherungswesen selbst etwas am Zeuge zu flicken sucht? Hört man nicht häufig die Ansicht, daß die Feuerversicherung die indirecte Veranlassung der meisten Brände sei?!

So lange aber unter Gottes Sonne neben guten Menschen Lumpe umherwandeln, so lange wird jede menschliche Einrichtung, sei sie auch noch so erhaben und segensreich, von derartigen Geschöpfen mißbraucht werden. Von solchem Mißbrauche ist kein Versicherungszweig frei; namentlich weiß die Lebensversicherung ein Lied davon zu singen. Freilich gehen derartige Betrügereien ohne sonderliches Aufsehen vor sich, denn die gerupfte Gesellschaft hat meist ihren guten Grund, darüber zu schweigen.

Es war im Frühjahre 1871, als einer jungen Berliner Gesellschaft die Versicherung eines im Anfange der dreißiger Jahre stehenden Mannes, welcher Oekonom in dem nahen Dorfe L. sein sollte, angeboten wurde. Wenn ich nicht irre, handelte es sich um eine Summe von fünf- oder sechstausend Thalern. Die Police sollte zu Gunsten eines Fräuleins – nennen wir sie Friederike – ausgefertigt werden. Fräulein Friederike, gab der Agent an, sei die Braut des zu versichernden Herrn K. Einige Tage später stellte sich der angehende Schwiegervater des Herrn K. der Direction vor und erzählte dabei in gesprächiger, vertrauenerweckender Weise, daß der junge Herr ein etwas lockerer Bursche gewesen, der in Wuchererhände gerathen sei. Nun habe seine Tochter schon eine längere Bekanntschaft mit dem jungen Manne, ganz gegen seinen Willen, ja sie habe ihm sogar mit ihrem Privatvermögen hin und wieder ausgeholfen. Aufheben könne und wolle er das Verhältniß nicht, da wolle er denn als vorsichtiger Mann seine Tochter wenigstens auf diese Weise sicher stellen. – Und so wurde, da ärztlicher Seits nichts dagegen sprach, die Versicherung in bester Form geschlossen.

Nach etwa Jahresfrist erhielt die Gesellschaft die Anzeige, daß der zu Gunsten von Fräulein Friederike versicherte K. vor etwa zwei Monaten in der Charité gestorben sei. Die angestellten Erörterungen zeigten auf’s Unzweideutigste, daß die Gesellschaft einem ausgefeimten „Seelenverkäufer“ in die Hände gefallen war. Die Acten des Charité-Krankenhauses ergaben über die Vorgeschichte des Verstorbenen nur dürftige Auskunft. Soviel aber ging daraus hervor, daß der Unglückliche in einer Novembernacht als Obdachloser in der Blumenstraße von einem Blutsturze befallen, auf die nächste Polizeiwache und von da am andern Morgen nach der Charité gebracht worden.

K. war niemals Oekonom. Aus guter Familie stammend, war er früh aus der Provinz nach der Residenz gekommen. Da die Eltern ebenfalls früh verstorben waren, so sah er sich im Besitze eines nicht ganz unbedeutenden Vermögens, womit er ein kaufmännisches Geschäft begründete. Alleinstehend und unerfahren mit dem Getriebe des großstädtischen Lebens, gerieth der charakterschwache, vielleicht auch etwas beschränkte Mensch bald in Gesellschaft, die ihn um das Seinige und in die Hände jenes „dunklen Ehrenmannes“ brachte. Welche Rolle dabei Fräulein Friederike gespielt hatte, blieb unaufgeklärt. Nachdem nun das Versicherungsgeschäft abgeschlossen war, schickte der Ehrenmann den angehenden Schwiegersohn, wie es hieß, als Aufseher in seine Kalkbrennerei, in der Nähe von Fürstenwalde. Doch bald zeigte es sich, daß er sich dazu nicht eignete, und so wurde K., der schon längst jede Willenskraft verloren hatte, bald mit den anderen Arbeitern in Reihe und Glied gestellt. Sein Körper war natürlich dieser schweren und anerkannt der Gesundheit nachtheiligen Arbeit nicht gewachsen. Nachdem er auf diese Weise zwei Monate „Kalk geschluckt“ hatte, war er so weit, daß er mit Erfolg den „Tritt“ erhalten konnte. – Mittellos, an Körper und Geist gebrochen, wanderte im Herbst K. der Residenz wieder zu, um die Zahl jener Existenzen zu vermehren, welche im Munde des Volkes den Namen „Pennbrüder“ führen, bis er in dem Krankenhause eine letzte, menschenwürdige Aufnahme fand.

Jede Lebensversicherungsgesellschaft hat in ihren Acten so manchen „interessanten Fall“, wenn auch in anderer Form, aufzuweisen. Erfahrungsgemäß sind es aber die jüngeren Gesellschaften, welche von derartigen Industrierittern mit Vorliebe ausgebeutet werden.

Dr. Gallus.     

Wir haben im Vorstehenden einen Versicherungsbeamten über die Gefahren sprechen lassen, welchen die Gesellschaftsbanken von Seiten des Publicums ausgesetzt sein können und welche ohne Zweifel die Vorsichtsmaßregeln rechtfertigen, welche dem Abschlusse einer Versicherung vorhergehen. Soll aber das Mißtrauen, welches der Ausbreitung des Versicherungswesens in Deutschland als schwerster Hemmschuh anhängt, nicht immer frisches Zugewicht erhalten, so darf die Vorsicht nicht soweit getrieben werden, daß das natürliche Anrecht des Einzelnen auf solche Anstalten dadurch gefährdet und verletzt werde. Dies geschieht aber, wenn z. B. die Agentschaften der Lebensversicherungsbank für Deutschland in Gotha sich nicht mit den Zeugnissen ihrer Vertrauensärzte und der Zeugen begnügen, welche die betreffende Declaration mit unterschrieben haben, sondern hinter dem Rücken derselben geheime Anfragen an weitere Personen ihres Vertrauens über dieselbe richten. Das Schema eines solchen geheimen „Gutachtens“ mit acht Fragen liegt vor uns, ebenso ein lithographirter Agentschaftsbrief. Jene acht Fragen betreffen aber nicht blos den zur Versicherung Angemeldeten, sondern die siebente Frage lautet: „Haben Sie etwas über den Aussteller des betreffenden Gesundheitszeugnisses oder über die auf der Declaration unterzeichneten Zeugen zu bemerken?“ – Hiergegen ist als Hauptfrage aufzustellen: In welche Hände können solche geheime Anfragen kommen? Kann nicht der unbescholtenste Mann um die Aufnahme in die Lebensversicherung gebracht werden, wenn das geheime Frageblatt in ihm feindliche Hände kommt? Und wenn die Direction ihren Vertrauensärzten selbst nicht traut, muß sie nicht über jeden anderen insgeheim Befragten wieder weitere geheime Gutachten einziehen? Wo ist da das Ende – und wo bleibt persönliche Achtung und Ehre?


Eine Sonnenmaschine. In einem Garten der Dictatorstadt Tours konnte man vergangenen Sommer eine gar seltsame Riesenblume schauen, die, einer Sonnenblume gleich, dem Laufe des strahlenden Gestirnes am Himmelsgewölbe nachfolgte, um vom Morgen bis zum Abend alle Strahlen in ihrem Busen zu sammeln. Sie schimmerte wie die Blüthe einer weißen Lilie oder besser wie die kegelförmige Hülle des Aronstabes (calla), den wir an unseren Fenstern ziehen, nur daß der Kelch einen regelmäßigen, aus silberplattirtem Kupfer gefertigten Hohlkegel bildete, dessen Oeffnung einen Durchmesser von 2,6 Meter hatte. Wie bei dem Aronstabe erhob sich inmitten des spiegelnden Kegels ein dicker Kolben, und ebenso wie man ihn bei unserer Zimmerblume zuweilen um fünf oder mehr Grade wärmer als die Zimmerluft findet, ward dieser Kolben im Kelche der Metallblume im Sonnenscheine sehr heiß, denn er stellte einen durch die im Spiegelkelche gesammelten Sonnenstrahlen geheizten Dampfkessel vor. Um also nicht länger durch die Blume zu sprechen – es handelt sich hier um eine jener Sonnenkraftmaschinen des Herrn A. Mouchot,[WS 1] von denen wir den Lesern der Gartenlaube bereits früher (Jahrgang 1874, S. 468) eine Beschreibung gemacht haben.

Hier nun einige Andeutungen über die mit diesem Modelle erzielten Wirkungen. Die in dem hohlcylinderförmigen Raume des Dampfkessels enthaltenen zwanzig Liter Wasser brauchten in der Maisonne keine Stunde, um in’s Sieden zu gerathen, und fünfzehn Minuten später war bereits eine Dampfspannung von fünf Atmosphären vorhanden. Dieselbe würde noch höher gestiegen sein, wenn man dem dünnwandigen Kessel hätte mehr zumuthen dürfen. An einem Julimittage verdampfte der Kessel in der Stunde fünf Liter Wasser, was einer Dampferzeugung von hundertvierzig Litern in der Minute entspricht. Man sieht, es würden sich mit dem durch eine bewegliche Röhre aus dem Kelche geleiteten Dampfe ganz ansehnliche Maschinen treiben lassen, aber vielleicht würde es die angemessenste Verwendung sein, wenn man den durch die Sonnenhitze erzielten Wasserdämpfen die im heiteren Süden so viel betriebene Parfüm-Industrie übertrüge, die Sonne, nachdem sie den Duft der Pflanzen erzeugt, auch veranlaßt, ihn für die Toilettenfläschchen der Damen und die Vorrathsgefäße der Apotheker zu sammeln. Es würde eine eigene Poesie darin liegen, auf die Rosenölfläschchen etc. schreiben zu können: „Ohne fremde Mithülfe von der Sonne bereitet und gewonnen“, oder kürzer: „Product der Sonne“. C. St.     


Noch einmal der New-Yorker Millionendieb. Früher flüchteten sich die Spitzbuben aus Europa nach Amerika, jetzt suchen amerikanische Diebe in Europa ein Asyl. Der New-Yorker Millionendieb Tweed, den seine Advocaten aus dem Zuchthause gebracht hatten und der seither infolge der Civilklagen, welche die bestohlene Stadt New-York gegen ihn angestrengt hatte, in dem Civilgefängnisse in Ludlowstreet saß und dort wie ein Fürst lebte, ist auf und davon gegangen. Er hätte dies auch schon vom Zuchthause aus thun können, aber er hatte die nicht ganz unbegründete Hoffnung, mittelst der politischen Tammany-Hall-Gesellschaft wieder obenauf zu kommen und selbst die Führerschaft dieser ebenso mächtigen wie aus den verworfensten Elementen zusammengesetzten Gesellschaft zu erlangen. Die letzten Wahlen haben aber die Macht von Tammany-Hall gebrochen und dem Millionendieb jede Hoffnung genommen. Die Deutschen aber sind es, welche in diesen Wahlen den Ausschlag gaben und zwar deshalb, weil bei denselben die Schulfrage (eine freie und von keiner religiösen Secte beeinflußte Schule, aus welcher die Bibel wegzubleiben hat) die erste Rolle spielte. Der Millionendieb findet indessen zwei seiner früheren Spießgesellen, die bereits vor ihm die neue Welt verlassen haben, in Europa vor, wo dieselben von den Früchten ihres Diebstahles hoch und herrlich leben. Er blieb, nachdem Tammany-Hall die verdiente Schlappe in den Wahlen erhalten hatte, nur noch so lange, bis er seinen Grundbesitz an Andere in der Art übertragen hatte, daß die Stadt, wenn sie auch in allen den angestellten Civilklagen siegt, dennoch – das Nachsehen hat. Richter Davis, der Tweed zum Zuchthause verurtheilt hatte, äußerte, als ihm dessen Flucht mitgetheilt wurde: „Ach, er wird sich eben ein größeres Feld („Field“ – so heißt auch der Advocat Tweed’s) suchen.“ D.     


Uebersetzungen. Von Marlitt’s neuer Erzählung sind jetzt schon Uebertragungen in’s Englische, Französische, Dänische, Holländische, Schwedische und Italienische angekündigt. Von den genannten Nationen sind nur die englische, französische, schwedische und italienische so anständig, der Dichterin ein Honorar zu zahlen; die Dänen und Holländer stehlen eben das geistige Eigenthum sans gêne, ohne auch nur ein Wort der Entschuldigung darüber zu verlieren. – Auch von den Scherr’schen Artikeln unseres Blattes: „Das rothe Quartal“ werden Uebertragungen in’s Holländische, Englische und Französische vorbereitet.


Binnen zehn Tagen hat die „Gartenlaube“ drei ihrer ältesten und geschätztesten Mitarbeiter verloren. Kaum haben wir den Tod Ludwig Würkert’s, am 10. Januar, berichtet, so kommt von Zürich die Nachricht vom Ableben Heinrich Lang’s, der unseren Lesern durch sein Lebensbild „Bis zur Schwelle des Pfarrhauses“ lieb geworden und der dort, als Prediger an der Petrikirche und Hauptstütze des Protestantenvereins, am 13. Januar gestorben ist. Und heute, am 20., ruft ein Telegramm aus Nizza uns zu, daß gestern dort Franz Wallner, unser alter, liebenswürdiger und stets heiterer Freund, sanft entschlafen sei. So geht Einer nach dem Andern – und bald wird ein neues Geschlecht nur noch die Gräber des alten zu schmücken haben.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mouchat
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_092.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2023)