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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

hatte allerdings nie ihre feinen Sohlen mit dem Arbeitsstaub in des Schwagers Spinnerei befleckt; sie wußte auch in der That nicht, wie es bei den Leuten aussah, die das dringende Verlangen nach Reformen unter eine Fahne rief und sie zu einer Macht anwachsen ließ, die sich wie ein Keil zwischen die gesellschaftliche Ordnung schob und sie zu zersprengen drohte. Aber wozu denn auch? Mußte man denn Alles in Wirklichkeit gesehen und erlebt haben, was man schilderte? Lächerlich! wozu waren denn Geist und Phantasie da? … Bis heute hatte der Doctor ihre literarischen Bestrebungen mit keiner Silbe berührt – „aus Scheu und Respect“ hatte sie gedacht, und nun griff er dieses Wirken plötzlich so plump, so verständnißlos an – er! Sie rang schwer mit sich. „Ich begreife nicht, Großmama, wie Du Dich zu der Bezeichnung ‚Idealist‘ versteigen konntest,“ rief sie mit funkelnden Augen herüber. „Ich dächte, Bruck hätte vorhin das große Thema trocken genug beleuchtet. Nach seinem Programme sollen wir schleunigst Comfort und Eleganz abstreifen und in Sack und Asche gehen; wir sollen uns beileibe nicht geistig beschäftigen, sondern Volkssuppen kochen. Daß wir die Stille und Abgeschlossenheit unsers Parkes vertheidigen, ist Todsünde – es versteht sich von selbst, daß wir die hoffnungsvolle Schuljugend direct unter unseren Fenstern turnen und lärmen lassen etc., und wenn wir nicht brav sind und schön folgen, da stellt er uns ein Gespenst vor die Thür.“ – Sie lachte kurz und hart auf. „Uebrigens verrechnet sich solch ein Menschenfreund mit seinen Sympathien ganz gewaltig. Sollte es wirklich zu dem geweissagten Zusammenstoß kommen, dann wird das Gespenst mit ihm ebenso kurzen Proceß machen, wie mit uns auch.“

„Ich habe nicht viel zu verlieren,“ sagte der Doctor mit einem halben Lächeln.

Flora kam raschen Schrittes herüber. Ihre Löckchen flogen, und die schwere Sammetschleppe fegte den Marmorfußboden.

„O, seit heute Morgen darfst Du das nicht mehr sagen, Bruck,“ entgegnete sie beißend. „Bist ja Hausbesitzer geworden, wie mir Moritz mittheilte. Alles Ernstes – hast Du wirklich Deine Drohung von gestern wahr gemacht und die entsetzliche Baracke drüben am Flusse erstanden?“

„Meine Drohung?

„Nun, anders kann ich’s doch nicht nennen, wenn Du mir ein solches Schreckbild für die Zukunft hinstellst? Du hast, wie Du es gestern selbst bezeichnet, Deine Ersparnisse in einem Grundstücke angelegt, das für mich das non plus ultra der Einöde, der Aermlichkeit und der abstoßenden Häßlichkeit ist. Zur Augenweide allein hast Du doch das Kleinod unmöglich an Dich gebracht, und deshalb frage ich Dich ernstlich: ‚Wer soll darin wohnen?‘“

„Du brauchst es mit keinem Fuße zu betreten.“

„Das werde ich auch niemals – darauf kannst Du Dich verlassen. Eher –“ es war ein schwer zu enträthselnder Blick, mit welchem der Doctor unterbrechend die Hand hob, aber dieser verdunkelte Blick hatte etwas so gewaltig Zwingendes, daß der rothe Mund des schönen Mädchens unwillkürlich verstummte.

„Ich habe das Haus für meine Tante bestimmt und werde nur ein Zimmer für mich reserviren, das mir für meine freien Stunden einen ungestörten Arbeitswinkel im Grünen bietet,“ sagte er gleich darauf weit ruhiger, als man nach seinem vorherigen Gesichtsausdrucke[WS 1] hätte erwarten können.

„Ah, viel Vergnügen dazu! Also ein specielles Sommerasyl! – Und im Winter, Bruck?“

„Im Winter werde ich mich mit dem grüntapezirten Zimmer begnügen müssen, das Du in unserer zukünftigen Wohnung selbst für mich bestimmt hast.“

„Aufrichtig gestanden – ich mag die Wohnung nicht mehr. Gerade um dieses Eckhaus tost der Straßenlärm unaufhörlich und wird mich stören, wenn ich arbeiten will.“

„Nun, dann werde ich dem Hauswirthe Abstandsgeld zahlen und eine andere suchen,“ entgegnete er mit unerschütterlichem Gleichmuth.

Flora wandte sich achselzuckend von ihm weg, und zwar so, daß Käthe ihr voll in’s Gesicht sehen konnte. Fast schien es, als stampfe die schöne Braut den Boden. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah mit einem Augenaufschlage nach der Zimmerdecke, als ob sie verzweifelt ausrufen wollte: „Gott im Himmel, ist ihm denn gar nicht beizukommen?“

In diesem Augenblicke schellte die Präsidentin so stark, daß das Geklingel scharf und anhaltend vom Ende des langen Corridors hereindrang. Die alte Dame sah streng und beleidigt aus – in ihrem Beisein durfte es zu solchen tactlosen Auseinandersetzungen nicht kommen. „Du magst nicht gerade vortheilhaft über die Gastfreundschaft und den guten Ton im Hause Deines Schwagers denken, Käthe,“ sagte sie zu dem jungen Mädchen. „Man hat Dir weder die Reisejacke abgenommen, noch einen Stuhl zum Niedersitzen angeboten; statt dessen mußt Du, gleichviel ob Du Lust hast, oder nicht, unnütze Erörterungen anhören und auf dem kalten Steinfußboden stehen, während dort die dicken, warmen Teppiche liegen.“ Sie zeigte nach den zwei entgegengesetzten[WS 2] Zimmerecken, welche Gruppen von Polstermöbeln und in der That kostbare, schwellende Smyrnateppiche ausfüllten, dann gab sie dem eintretenden Bedienten Befehle für die Hausmamsell hinsichtlich der schleunigen Instandsetzung einiger Gastzimmer.

Damit war die athemlose, herzbeklemmende Spannung gelöst, welche sich bei dem zugespitzten Wortwechsel der Zuhörenden bemächtigt hatte. Der Commerzienrath beeilte sich, der Angekommenen das Jaquet abzunehmen, und Henriette verließ mit einer tiefen Fiebergluth auf den eingefallenen Wangen den Wintergarten, um ihre Taube fortzutragen.

„Wollen Sie nicht zum Thee bleiben, Herr Doctor?“ fragte die Präsidentin den Arzt, der sich abschiednehmend vor ihr verbeugte. Er entschuldigte sich mit einigen Krankenbesuchen, die er noch zu machen habe – Gründe, bei welchen es sarkastisch um Flora’s Lippen zuckte, aber das schien er nicht zu bemerken; er reichte ihr die Hand, ebenso dem Commerzienrathe, vor Käthe aber neigte er sich ritterlich ehrerbietig, durchaus nicht wie vor einer jungen, neuen Schwägerin; für ihn war und blieb sie vorderhand das Mädchen aus der Fremde, und die Anderen schienen diese Auffassung ganz in der Ordnung zu finden … Mit ihm zugleich verließ Henriette das Zimmer.

„Hör’ mal, Flora, für künftig verbitte ich mir dergleichen unerquickliche Scenen, wie wir sie eben mitansehen mußten,“ sagte die Präsidentin stirnrunzelnd mit sehr verschärfter Stimme, nachdem sich die Thür hinter den Hinausgehenden geschlossen hatte. „Du hast Dir die vollkommene Freiheit gewahrt, auf Dein Ziel loszusteuern, wie es Dir paßt und gefällt – gut – von meiner Seite ist Dir bisher nicht das Geringste in den Weg gelegt worden, aber ich protestire energisch, sobald Du Lust zeigst, die widerwärtige Sache vor meinen Augen auszufechten. Wie gesagt, ich verbitte mir das ernstlich! Soll ich Dir wiederholen –“

„Liebe Großmama,“ unterbrach sie die junge Dame persiflirend und verächtlich, „wiederhole nicht! … Du willst doch nur sagen: ‚In diesem Hause kann gemordet werden; es kann brennen – gleichviel, wenn nur die Frau Präsidentin Urach leuchtend wie ein Phönix aus der Asche hervorgeht‘ …. Pardon, Großmama! Ich will es in meinem ganzen Leben nicht wieder thun. Das Haus ist ja groß genug; man kann auch außer Deinem Gesichtskreise auf die Mensur gehen. Ach, wenn es mir nur nicht so entsetzlich schwer gemacht würde! Ich fürchte, eines schönen Tages verliere ich doch die Geduld –“

„Flora!“ rief der Commerzienrath mit einer Art von bittender Mahnung.

„Schon gut, mein Herr von Römer! Ich habe selbstverständlich jetzt auch Rücksicht auf Deine neue Standeswürde zu nehmen. Gott, was Alles lastet auf meinen armen Schultern! Und womit verdiene ich die Heimsuchung, daß sich die Herzen wie die Kletten an mich hängen?“

Sie griff nach ihrem Hute und nahm die Sammetschleppe auf, um zu gehen – vor Käthe hielt sie den Schritt an.

„Siehst Du, mein lieber Schatz,“ sagte sie und legte der jungen Schwester den Zeigefinger unter das Kinn, „so geht es dem armen Frauenzimmer, wenn es sich für einen kurzen Moment mit der Sentimentalität einläßt und zu lieben sich einbildet. Es hat plötzlich den Fuß im Tellereisen und sieht wehklagend ein, daß die abgedroschene gute Lehre: ‚Drum prüfe, wer sich ewig bindet!‘ eine abscheuliche neue Wahrheit enthält – denke an Deine Schwester und nimm Dich in Acht, Kind!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gesichsausdrucke
  2. Vorlage: entgegegensetzten
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_078.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2018)