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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Mit der milderen Jahreszeit fühlte sie sich jedoch so gekräftigt, daß sie ihren längst gehegten Wunsch, eine Reise zu ihren Verwandten nach Mecklenburg zu machen, ausführen durfte. Von tiefer Sehnsucht getrieben, konnte sie den Tag kaum erwarten. Als sie ihren Vater, der sie auf dem Wege überraschte, sah, rief sie unter Thränen: „Ach, da ist mein Vater.“

Am Eingange des Schlosses wurde sie von ihrer Großmutter, der achtundachtzigjährigen Landgräfin von Hessen-Darmstadt, begrüßt. Tief bewegt stürzte Louise in die Arme der würdigen Matrone, welche einst die liebevolle Pflegerin ihrer Kindheit war. Nie war die Königin liebenswürdiger, nie hingebender, aber nie auch ernster und resignirter als in ihrer Heimath. Wie die Sonne vor ihrem Scheiden erschien auch sie gleichsam im Lichte der Verklärung. Bei der ihr zu Ehren gegebenen Cour bewunderten einige Damen ihren Perlenschmuck, den einzigen Schmuck, welchen sie damals trug. „Ich liebe sie auch sehr,“ sagte sie, auf die Perlen deutend, „und habe sie zurückbehalten, als es darauf ankam, meine Brillanten hinzugeben. Sie passen besser für mich, denn sie bedeuten Thränen, und ich habe deren so viel vergossen.“

Drei Tage später kam ihr der König nachgereist; sie empfing ihn mit der größten Freude und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit so glücklich, daß sie in ihrer Seligkeit ihrem Bruder, als sie mit ihm allein war, zurief: „Georg, nun erst bin ich ganz glücklich.“ Es drängte sie dieses Gefühl auszusprechen und festzuhalten; deshalb setzte sie sich an den Schreibtisch ihres Vaters und schrieb auf ein Blatt Papier folgende Zeilen: „Mon cher papa! Je suis bien heureuse aujourd’hui, comme votre fille et comme l’épouse du meilleur des époux. Louise. Neu-Strelitz, le 28 Juin 1810. Es war dies ihr letzter Brief, eine heilige Reliquie für ihre Familie, das herrlichste Zeugniß eines von Liebe überströmenden Herzens.

An demselben Abend fuhr sie mit den Ihrigen nach dem Lustschloß Hohen-Zieritz, wo sie plötzlich über heftige Kopfschmerzen und Brustbeklemmungen klagte. Da sie sich aber bald wieder besser fühlte, so nahm sie im Kreise ihrer Lieben den Thee im Freien ein. In der Nacht jedoch kehrte ihr Unwohlsein heftiger zurück, weshalb der hinzugerufene Hofarzt Hieronymi einen Aderlaß verordnete, der ihr am Tage Erleichterung verschaffte, sodaß der König unbesorgt nach Berlin zurückfahren konnte, wohin ihn dringende Staatsgeschäfte riefen. In der nächsten Woche verschlimmerte sich wiederum der Zustand der Patientin; sie fieberte heftig und schlief wenig oder gar nicht. Da der König, der täglich von dem Befinden der Kranken Nachrichten empfing, selbst leidend war, so schickte er in Abwesenheit seines Leibarztes Hufeland den berühmten Doctor Heim. Dieser fand das Leiden zwar bedenklich, aber nicht gefährlich. Kaum aber war er abgereist, so zeigten sich beunruhigende Symptome, besonders heftige Brustkrämpfe, welche das Leben der Königin ernstlich zu bedrohen schienen.

Nach dem einstimmigen Zeugniß ihrer Umgebung ertrug sie ihre Leiden mit bewunderungswürdiger Ruhe und Geduld. Die gleichzeitige Erkrankung des Königs beschäftigte sie weit mehr als die eigene Gefahr; es war ihr peinlich, daß sie nicht bei ihm sein konnte, um ihn zu pflegen. Ein Brief, den sie von ihm erhielt, rührte sie zu Thränen; sie trug ihn auf ihrem Herzen und konnte sich nicht davon trennen. „Ach, welch ein Brief!“ rief sie, ihn immer von Neuem lesend, „wie glücklich ist man, wenn man solch einen Brief erhält!“

Hauptsächlich beschäftigte sie sich mit ihren Kindern und nächsten Angehörigen. „Ach!“ klagte sie, „wenn nur die Angst um mich nicht auch die gute Großmutter und meinen Vater krank macht!“ Sonst war sie heiter, ihr Geist frei von allen Besorgnissen, sodaß sie und ihre Umgebung sich täuschen ließen und keine Gefahr befürchteten.

Am Morgen des 16. Juli trat beim Verlesen der Zeitung ein so heftiger Erstickungsanfall ein, daß man ihr Ende nahe glaubte. Sie überwand zwar durch Anwendung der geeigneten Mittel den Anfall, aber da sich derselbe im Laufe des Tages, wenn auch schwächer, wiederholte, so begab sich der bereits genannte Heim in Begleitung der Generalärzte Wiebel und Görke aus Berlin auf Befehl des Königs zu der Kranken. Leider war all ihre Mühe vergeblich; sie wurde immer schwächer und matter. „Ich bin Königin,“ klagte sie, „aber meinen Arm kann ich nicht bewegen.“ – Je näher sie sich ihrem Tode fühlte, desto mehr sehnte sie sich nach ihrem Gatten und den Kindern. In der Nacht des neunzehnten Juli traten neue Brustbeklemmungen ein; man hörte sie jetzt öfters stöhnen: „Luft, Luft!“ – Zu ihrem Arzte, der an ihrem Lager wachte, sagte sie, nur für die Ihrigen besorgt: „Aber bedenken Sie, wenn ich jetzt dem König und meinen Kindern stürbe!“

Erst gegen Morgen traf der König mit den beiden ältesten Prinzen ein. Bei seinem Eintritte röthete noch einmal die Freude ihre bleichen Wangen; sie streckte ihm die abgezehrten Arme entgegen und küßte ihn mit den blutlosen Lippen. Er aber konnte seine Thränen nicht zurückhalten und weinte bitterlich. Um ihr seine Erschütterung zu verbergen, trat er einen Augenblick in das Nebenzimmer, wo er sich unbeachtet seinem Schmerze überließ. „Der König,“ bemerkte die Kranke, „thut, als ob er von mir Abschied nehmen will; sagt ihm, er solle das nicht – ich sterbe sonst gleich.“ Zurückgerufen, suchte er sie zu beruhigen und ihr einzureden, daß er selbst die beste Hoffnung habe. Aber in seinem Innern tobte die düsterste Verzweiflung, und als ihn die greise Großmutter tröstete, erwiderte er mit der Bitterkeit des Unglücks: „Ach! wenn sie nicht mein wäre, würde sie leben, aber da sie meine Frau ist, stirbt sie gewiß.“ –

So nahte die schwere Todesstunde der herrlichen Frau. Der König saß auf dem Rande ihres Bettes und hielt ihre erkaltende Hand in der seinigen; zu ihren Füßen knieten ihre herbeigeeilte Schwester und die Oberhofmeisterin Voß, während ihr Haupt an der Brust ihrer treuen Freundin, der Frau von Berg ruhte. Die drei Aerzte standen rathlos vor dem Lager der Sterbenden. Es war gegen neun Uhr des Morgens; die Königin hatte ihren Kopf sanft auf die Seite geneigt und die Blicke fest zum Himmel gerichtet. Ihre großen Augen weit geöffnet und aufwärts schauend, rief sie noch mit vernehmlicher Stimme: „Ich sterbe – o Jesu, mach’ es leicht!“ Das waren ihre letzten Worte; nur noch einmal seufzte sie tief und hatte ausgelitten. Der König brach, vom Schmerze überwältigt, zusammen, doch raffte er sich auf, um seine Söhne zu holen; sie knieten vor der todten Mutter nieder und benetzten ihre kalten Hände mit heißen Thränen. Nur mit Mühe konnte sich der König von der geliebten Leiche trennen, zu der er immer wieder zurückkehrte. Seine Kinder allein, zu denen später noch der Prinz Karl und die Prinzessin Charlotte von Berlin hinzukamen, vermochten ihn einigermaßen zu trösten; er schlief in ihrer Mitte und ließ sie nicht von seiner Seite.

Die Leiche wurde nach Berlin gebracht. Groß war der Schmerz des ganzen Volkes, dem der berühmte Schleiermacher in seiner Trauerrede den tiefsten und wahrsten Ausdruck lieh. „Wir wissen,“ sagte er, „wie innig sie, ohne jemals die Grenzen zu überschreiten, die auch für jene königlichen Höhen der Unterschied des Geschlechts feststellt, Antheil genommen hat an allen großen Begebenheiten, wie sie eben durch ihre Liebe zu ihrem königlichen Gemahl, durch die mütterliche Sorge für die theuren Kinder sich Alles angeeignet hat, was das Vaterland betraf, wie lebendig sie immer erfüllt war von den ewig herrlichen Bildern des Rechtes und der Ehre, wie begeisternd ihr Bild und Name, eine köstlichere Fahne, als welche die königlichen Hände verfertigt hatten, den Heeren im Kampfe voranging.“

So war Louise, so lange sie lebte, die reinste deutsche Frau, die liebevollste Gattin und Mutter, der Genius der Familie, nach ihrem Tode aber war sie der Schutzgeist ihres Volkes, das sie noch immer wie eine Heilige verehrt und dem sie als das Ideal der reinsten Weiblichkeit unvergeßlich bleibt.

Max Ring.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_072.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)