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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Die Farbenblindheit,


eine Gefahr für das öffentliche Leben.


Der leider der Wissenschaft und wir dürfen ohne Uebertreibung sagen der Menschheit so früh entrissene Sprachforscher und Philosoph, der große Denker Lazarus Geiger, bewies in der überwältigenden Rede, durch die er einige Jahre vor seinem Tode auf der Naturforscherversammlung zu Frankfurt am Main die gesammte Hörerschaft entzückte, daß die menschlichen Sinnesorgane vor Jahrtausenden noch nicht zu so exacten Sinneswahrnehmungen sich herangebildet hatten, wie solche die heutige Beobachtung[WS 1] erweist. Er nahm die Geschichte des Farbensinnes in Bezug auf die Gesammtentwickelung des Empfindens zum Thema seines Vortrags und wies aus den ältesten uns erhaltenen Geisteswerken der Urvölker nach, daß der Eindruck, den die Farbe auf die menschliche Gesellschaft der Vorzeit gemacht hat, auf eine merkwürdige Verschiedenheit von unseren heutigen Farbenempfindungen schließen läßt. Besonders auffallend ist, daß in den ältesten uns überkommenen Erzeugnissen der Literatur des Alterthums der blauen Farbe durchaus keine Erwähnung geschieht.

Weder die alten hochpoetischen indischen Offenbarungsbücher, die „Veda“, die in ihrer Gesammtheit mit Schilderungen des Himmels angefüllt sind, noch der „Zendavesta“, jene wunderbare Sammlung altpersischer Religionsschriften des Zoroaster, erwähnen die blaue Farbe des Himmels, den sie schwarz nennen. Auch Bibel und Koran finden keine Gelegenheit des blauen Himmels zu gedenken. Die Wörter, welche in den Sprachen des grauen Alterthums für blau gebraucht werden, bedeuten zum kleineren Theil ursprünglich grün; der größte Theil derselben hat in früherer Zeit schwarz bedeutet. Weder Homer noch das ganze classische Alterthum haben ein Wort für das reine Blau gekannt, indem das lateinische Wort „caeruleus“ in seiner Bedeutung eine zeitliche Entwickelung von schwarz über grau bis gegen blau hin durchläuft, und so kam es, daß die romanischen Sprachen in der That kein verwendbares Wort für blau in der römischen Grundsprache vorfanden und es zum Theil von den Deutschen geborgt haben (blau, bleu, blue).

Geiger weist weiter nach, daß die grüne Farbe um eine Stufe weiter als die blaue in das Alterthum zurückgeht, um dann ebenfalls abzubrechen, und schließlich tritt der Dualismus von schwarz und roth in sehr scharfen Zügen als eine erste und primitivste Epoche alles Farbensinnes hervor. Geiger stellt die Frage auf: „Besteht der Gegensatz gegen uns nur in der Benennung oder in der Perception?“ (Das heißt in dem Bewußtsein des Farbeneindruckes). Wir glauben an der Hand der neuesten wissenschaftlichen Forschungen die Frage Geiger’s in der Richtung beantworten zu können, daß wohl ein allgemeiner Mangel an Perception für gewisse Farben im Alterthum stattgefunden haben dürfte, indem die für alle Farben des Regenbogens herangebildete Empfindung der Netzhaut unseres Auges auf das Darwin’sche Gesetz der im Laufe der Jahrtausende entstandenen Verbesserung aller Wesen und alles Seins in kaum anzugreifender Weise sich zurückführen läßt. Ebenso wie im Thier- und Pflanzenreiche heute noch Abarten vorkommen, bei welchen in mangelhafter Weise gewisse Organe ausgebildet sind, welche im „Kampfe um’s Dasein“ der Weiterentwickelung getrotzt haben, ebenso finden sich heute noch Menschen, bei welchen der Farbensinn des Auges nur partiell entwickelt oder in seiner Totalität gar nicht vorhanden ist, ein Bildungsfehler, welcher in gewissen Familien durch Generationen als Familienerbstück nachgewiesen werden kann. Man nennt diese Zustände partielle und totale Farbenblindheit.

Es braucht wohl hier auf die Organisation des Auges nicht eingegangen zu werden, da die Leser der Gartenlaube mit derselben schon zu verschiedenen Malen bekannt gemacht wurden.

Alles was zu dem Sehorgane als licht- und bildempfindendem Apparate gehört, das Auffassen der Bilder und der Farben, wird durch seine feinen Gebilde percipirt, das heißt empfangen und durch die Sehnervenfasern, als die leitenden Apparate, dem Gehirne als Empfindung zugeführt.

Nun giebt es eine große Anzahl von Menschen, von welchen gewisse Farben nicht empfunden werden, oder mit anderen Worten, bei welchen die Endorgane der Sehnerven entweder nicht geeigenschaftet erscheinen, die Bewegung gewisser Lichtwellen zur Gehirnempfindung zu vermitteln, oder solche überhaupt mangelhaft ausgebildet, vielleicht gar nicht vorhanden sind.

Es entsteht aus diesem Mangel die sogenannte Farbenblindheit, ein vielfach angeborener, ja sogar meistentheils ererbter Bildungsfehler des menschlichen Auges. Es giebt unter den Farbenblinden solche, welche überhaupt keinen Begriff von Farbe haben und die ganze Welt wie eine Tuschzeichnung grau in grau schattirt sehen. Bei anderen ist die Auffassung der Farben getheilt – sie sind nur partiell farbenblind; das heißt für gewisse Farben ist ihre Netzhaut empfindlich, für andere nicht. Am verbreitetsten unter den Menschen ist die Rothblindheit, Anerythropsie oder Daltonismus, und kommt solche namentlich in England vor, woselbst das Uebel nach dem bekannten Physiker Dalton, welcher zu den Rothblinden gehörte und zuerst eine genauere Untersuchung dieses Zustandes bewirkte, seine Benennung erhalten hat.

Wer kein Roth sieht, dem fehlt auch der Eindruck der durch das Grün hervorgerufenen Lichtwellen, wie schon der große Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Werke über „das Sehen und die Farben“ ganz positiv und mit Recht behauptet hat – mithin ist jeder Rothblinde auch grünblind. Er sieht in Wirklichkeit Alles gelb und blau. Andererseits giebt es Menschen, welche das Blau nicht zu erkennen vermögen, welchen demnach diejenigen Nervenapparate im Auge fehlen, welche durch die blauen Lichtwellen erregt werden. Der Mangel der sicheren Auffassung des Blau wird Akyanoblepsie genannt, und ist solchen Menschen ebenfalls die Gabe, die sogenannte complementäre Farbe, den Gegensatz von Blau, das Gelb, unterscheiden zu können, entzogen.

Wenn es andererseits vorkommt, daß Manche verschiedene Farben miteinander verwechseln, z. B. nicht Blau und Roth oder Grün und Braun von einander sicher zu unterscheiden vermögen, Andere zwar Gelb, Roth und Blau zu erkennen im Stande sind, dagegen häufig in der Beurtheilung untergeordneter Nüancen oder Farbenmischungen irren, so ist immer anzunehmen, daß solche Menschen zwei Farben ganz sicher durchaus nicht erkennen, z. B. die Einen nicht Roth und nicht Grün, die Anderen nicht Blau und nicht Gelb, daß aber ihre Angaben bestimmter vermeintlicher Farben, die sie eigentlich gar nicht sehen, auf einer anerzogenen Bezeichnung beruhen; eine gewisse Schattirung, die das normale Auge z. B. blau sieht, hat der Blaublinde in bestimmter Lichtabstufung immer blau bezeichnen hören, die betreffende Lichtabstufung, von der er durchaus keinen Farbenbegriff nach der Auffassung eines Blausehenden hat, nennt er eben blau, weil er es so gelernt und sein ganzes Leben hindurch so gehört hat. – Anderen erscheint Roth und Grün als Gelb oder Blau, und sie werfen sämmtliche Ausdrücke für die Farben in bunter und regelloser Weise durcheinander; solche Menschen befinden sich in der peinlichen Lage, drei- bis viermal so viele Ausdrücke für nur zwei von einander verschiedene Empfindungen, in unserem Falle für Gelb und Blau zu besitzen, da ihnen dieselben von Kindheit an ebenso gut eingeprägt worden, wie solchen, welche mit den Farbenbenennungen auch die entsprechenden Vorstellungen zu verbinden im Stande sind.

Karl Vogt erzählt, daß ihm unter seinen Bekannten Landschaftsmaler begegnet seien, die den Unterschied zwischen Roth und Grün nicht empfanden, die Abstufungen dieser Farben nur nach den Nüancen des Grau beurtheilten, das sie wirklich sahen, und dennoch in ihren Bildern keine Verstöße gegen die Harmonie und Stimmung der Farbe machten. In Deutschland soll es einer sehr hohen Persönlichkeit begegnet sein, daß sie bei einer zu Ehren eines fremden Potentaten abgehaltenen großen Revue in Folge partieller Farbenblindheit statt in dunkelgrüner in grellrother Generalsuniform erschienen, und in England ist es hohen Officieren mehrfach vorgekommen, daß sie in grasgrünen Röcken statt in der bekannten rothen Bekleidung auf die Parade kamen.

Goethe schildert einen Zustand von Akyanoblepsie oder Blaublindheit, den er an zwei jungen Menschen beobachtete;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beobachtumg
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_065.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)