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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Anzahl jener Greise, welche, durch Faulheit und Laster heruntergekommen, nichts mehr zu verlieren haben und demzufolge die zuverlässigen Rekruten für jeden Aufruhr sind, mag derselbe kommen, von welcher Seite er will. Die Ordnungsmänner schwenkten ihre weißen Taschentücher und erklärten laut, daß ihre Absicht eine durchaus friedfertige. In dem Augenblick aber, wo etliche der Insurgenten ihre Gewehrkolben aufwärts kehrten, um mit dem gesunden Bevölkerungstheile von Paris zu fraternisiren, ließ Bergeret die Trommeln rühren und nahm eine drohende Haltung an. Ein Flintenschuß wurde auf die dreifarbige (der Friedensprocession vorangetragene) Fahne abgefeuert, und fast in demselben Moment krachte eine mörderische Salve in die Ordnungsleute hinein, welche nach allen Seiten auseinanderstoben. Die Mörder waren so aufgeregt, viele darunter so toll vor Angst, daß sie ihre vor ihnen stehenden Kameraden rücklings niederschossen. Ueber jeden Zweifel erhaben ist, daß weder eine Flinte noch ein Revolver aus den Reihen der Ordnungsleute abgefeuert wurde.“

Doch nicht so ganz über jeden Zweifel erhaben, Euer Hochwürden! Es ist bei solchen Gelegenheiten in der Regel hüben und drüben etwas nicht in der Ordnung. Wenn die Bestie im Menschen sich aufrichtet und an ihrer Kette rasselt, pflegt ihr der boshafte Leibzwerg der Weltgeschichte, der Zufall, gar gern zu Diensten zu sein. Er richtet dann rasch eine jener Teufeleien an, welche man Mißverständnisse zu nennen pflegt. So eine Teufelei, so ein Mißverständniß, wie z. B. eins in der neunten Abendstunde vom 23. Februar 1848 vor dem Hôtel des Capucines in Paris und ein anderes in der dritten Nachmittagsstunde vom 18. März auf dem Schloßplatz in Berlin gespukt, ja so eins hat allem nach auch auf dem Vendômeplatz zu Paris am 22. März von 1871 seinen diabolischen Spuk getrieben. In solchen Stunden erweist sich namentlich das weise Warnungswort: „Spiele nicht mit Schießgewehren!“ als sehr begründet. Denn Schießgewehre scheinen da eine unwiderstehliche Neigung zum Losgehen zu haben.

Die Blauen – so will ich, falls es meinen Lesern und hoffentlich auch Leserinnen genehm, fortan kurzweg die Pariser Ordnungspartei nicht nur, sondern auch die rechtmäßige, vorderhand in Versailles kampirende Regierung der Republik sammt allen ihren Anhängern bezeichnen – die Blauen also kamen durch die Rue de la Paix zum Vendômeplatze gezogen. Dort angelangt, sahen sie sich den von dem Bürger Platzkommandanten Bergeret befehligten Rothen gegenüber, welche den Zugang zu dem Platze sperrten. Aus den blauen Reihen kamen die Rufe: „Hoch Frankreich! Hoch die Ordnung!“ aber auch einzelne Schreie: „Nieder mit dem Centralkomité! Nieder mit den Mördern!“ Warum hätten sich denn unter den Ordnungsleuten nicht etliche, sogar mehrere Schreihälse sollen befinden können, welche wähnten, da man einmal am Demonstriren wäre, könnte und müßte man die Rothen zu Boden demonstriren, niederschreien? Vielleicht verlangten die Demonstranten weiter nichts als den freien Durchpaß, aber, alles zusammengehalten, scheint es ausgemacht, daß erstens dieses Verlangen eine drohende Form angenommen habe und zweitens die Rothen von vornherein entschlossen waren, die Blauen nicht auf den Vendômeplatz hereinzulassen. Der Bürger Platzkommandant ließ demnach seine Leute ein Viereck formiren, die Gewehre laden, die Bajonnette aufpflanzen, und so sperrte diese lebende Barrikade den Zugang von der[WS 1] Friedensstraße her.

Jetzt fällt der in solchen Sachlagen nicht mehr ungewöhnliche Mißverständnißschuß. Wer hat ihn abgefeuert? Natürlich ein Rother, sagen die Blauen. Wogegen die Rothen: „Der Schuß, ein Pistolenschuß, kam aus den Reihen der Blauen und hat den Bürger Maljournal, Mitglied unseres Centralkomité, am Schenkel verwundet. Das wird uns ein gewiß unverdächtiger und kompetenter Zeuge, der berühmte amerikanische General Sheridan, der aus einem Fenster der Rue de la Paix den Vorfall mitansah, bezeugen.“ Und was sagt der General? Der General sagte „Ja“ – aber er fügt hinzu: „Wie die Elenden ihr Land entehren!“ und unter den „Elenden“ will er die Rothen verstanden wissen, welche den sinnlos herausfordernden Schuß – wenn es wirklich ein solcher war – mit einer mörderischen Salve beantworten. Zwar behaupten sie, es sei, als die Blauen den Durchpaß mit Gewalt hätten erzwingen wollen, der warnende Trommelwirbel geschlagen und erst nach Nichtbeachtung des Signals sei Feuer kommandirt worden. Aber Thatsache ist, daß Feuer kommandirt und in die dichtgestauten Reihen der Blauen hinein die Salve gefeuert wurde, bevor es möglich gewesen, das Warnungssignal zu beachten und demselben Folge zu leisten.

Die Wirkung dieser Salve, womit der Bürgerkrieg eröffnet wurde, war, wie sie sein mußte. Die blaue Demonstration zerstob in alle Winde. Zahlreiche Verwundete trugen den Schrecken in die benachbarten Quartiere. Zwanzig Todte, darunter ein Oberst, ein Leutnant, ein Vicomte, ein Bankier, ein Wechselagent, ein Ingenieur, rötheten mit ihrem Blute das Pflaster. Die Rothen scheinen doch selbst über die Schlächterei erschrocken zu sein. Wenigstens ist festgestellt, daß ihre Officiere sie am Weiterschießen hinderten. Auch sie zählten übrigens zwei Todte und acht Verwundete. Muß man annehmen, daß nach Abfeuern der rothen Salve auch aus den Reihen der Blauen geschossen worden sei? Oder ist die oben angeführte Behauptung des Abbé Lamazou, die Rothen hätten in der Verwirrung selber auf einander gefeuert, als Erklärung dieser Tödtungen und Verwundungen zulässig?

Gewiß ist, daß die Herren Bürger vom Centralkomité das auf dem Vendômeplatze Geschehene ausdrücklich guthießen und nach empfangenem Bericht darüber zweierlei beschlossen. Erstens, daß sich die auf dem Vendômeplatze kommandirenden Officiere „um das Vaterland verdient gemacht hätten“, und zweitens, daß keine blauen Kundgebungen mehr stattfinden dürfen. Denn Freiheit muß sein, d. h. jeder muß nach unserer Façon frei sein.

Der rothe Schrecken, welcher am Abend des 22. März vom Vendômeplatz ausging, unterwarf thatsächlich ganz Paris dem Machtgebote des Centralkomité. Fast unglaublich klingt es, daß der Admiral Saisset auch jetzt noch an die Möglichkeit einer friedlichen Ausgleichung glaubte und mit den Herren vom Stadthause in Unterhandlungen blieb. Am Morgen des 24. März ließ er sogar, freilich ohne die Ermächtigung der Regierung eingeholt zu haben, eine Proklamation anschlagen, worin er folgende Zugeständnisse von seiten der Regierung und der Nationalversammlung verhieß: „Volle Anerkennung der Gemeindefreiheiten, Wahl der Officiere aller Grade durch die Nationalgarde selber, Aenderung des Wechselgesetzes, Milderung des Miethzinsengesetzes.“

Von der passiven Bevölkerung der Hauptstadt, aber auch nur von der passiven, wurde dieser Erlaß, der eben doch nur ein Apokryphon, eine gutgemeinte Täuschung war, mit freudiger Zustimmung begrüßt. Im Stadthause lachte man darüber. „Die Blauen sind ebenso dumm wie schwach,“ meinte der Bürger Assi. Indessen wurde für gut befunden, die Unterhandlungskomödie, in welcher sich ja auch die Deputirten von Paris, sowie die Maires und ihre Adjunkten zu Dupes-Rollen hergaben, noch 24 Stunden weiterzuspielen. Alle die Herren Unterhändler von blauer Seite waren in Wahrheit „ebenso dumm wie schwach“. Sie merkten gar nicht, daß den Leitern der Insurrektion ungeheuer viel, alles daran lag, die Wahl einer Kommune als den Wunsch und die That der Gesammtbevölkerung von Paris hinzustellen und erscheinen zu lassen, und bewilligten eine der darauf abzielenden Forderungen des Centralkomité nach der andern. So kam die „Vereinbarung“ zu stande, daß Sonntags den 26. März von Morgens 8 Uhr bis Nachts 12 Uhr Paris seine „Kommune“ wählen sollte.

Damit hatten die Stadthausherren, was sie wollten. Der gute Admiral Saisset trieb die Kindlichkeit so weit, daß er als nach bestverrichtetem Werke die Bataillone der Bürgerwehr, welche noch bis zum 25. März unter seinem Kommando verharrt waren, entließ und am Abend des Tages mit dem frohen Bewußtsein, den Bürgerkrieg im Keime erstickt zu haben, nach Versailles hinausfuhr. Wie er dort empfangen wurde und bis zu welchem Grade der Verlängerung dieser Empfang sein Gesicht brachte, ist nicht genau bekannt.

Im Hôtel de Ville war man an diesem Abend siegesgewiß. Die Blauen hatten sich dumm und schwach erwiesen, die Rothen schlau und stark. Die Massen aber fallen überall und allzeit dahin, wo die größere Kraftentwickelung stattfindet.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: den
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_064.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)