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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

mich über Käthe’s Kommen freue und sie freundlich willkommen heiße, so geschieht das, weil sie meines lieben verstorbenen Mangold Kind und Eure Schwester ist.“

Sie ging mit gehobenen Händen auf Käthe zu, als beabsichtige sie eine Umarmung; allein diese verbeugte sich so tief und ceremoniell, als stehe sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor der stolzen Schwiegermutter ihres Vaters. Ein scharfer Blick hätte in dieser einen Geberde leicht das scheue Zurückweichen vor jeglicher Berührung erkannt, die Präsidentin aber sah darin offenbar nur das Anzeichen eines tiefen Respectes. Sie zog die Hände zurück und hauchte einen Kuß auf die Stirn des jungen Mädchens. „Bist Du wirklich allein gekommen?“ fragte sie, ihre Augen suchten unruhig forschend die Thür, als müsse noch irgend eine nicht gerade willkommene Reisebegleitung eintreten.

„Ganz allein. Ich wollte auch einmal selbstständig meine Flügel probiren, und das hat meine Doctorin gern erlaubt.“ Sie strich noch einmal wie unbewußt mit den schlanken Fingern über die Stelle, welche die alte Dame mit ihren kalten Lippen berührt hatte.

„Ei, das glaube ich Dir gern; das ist ja ganz im Sinne der alten Lukas,“ sagte die Präsidentin mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln. „Sie war ja auch stets sehr selbstständig … Dein guter Papa hatte sie ein ganz klein wenig verzogen, mein Kind. Sie that, was ihr gefiel; selbstverständlich immer nur das Rechte –“

„Und das Verständige; aus dem Grunde mag ihr wohl auch der Papa seine jüngste wilde Hummel anvertraut haben,“ setzte Käthe mit jener heiteren Unbefangenheit hinzu, die ihr ganzes Wesen charakterisirte. Aber gerade dieser Freimuth, diese Leichtigkeit und Sicherheit schienen unangenehm zu berühren.

Die Präsidentin zog die Schultern leicht empor. „Dein Papa hat sicher Dein Bestes gewollt, liebe Käthe, und meine Sache ist es nie gewesen, irgend eine seiner Maßregeln zu bemäkeln. Aber er war eine vornehme Natur und hielt streng auf das Decorum – ob es ihn nun doch nicht einigermaßen in Verlegenheit gebracht hätte, wenn ihm sein heiteres Töchterchen plötzlich so sans gêne, so frank und frei in das Haus geflattert wäre?“

„Wer weiß?“ versetzte Käthe. „Der Papa würde doch wissen, weß Geistes Kind diese Tochter ist“ – ein muthwilliger Strahl blitzte aus ihren braunen Augen – „Müllerblut, das schlägt sich tapfer und wohlgemuth durch die Welt, Frau Präsidentin.“

Der Commerzienrath räusperte sich und strich eifrig seinen schönen Lippenbart, während die Präsidentin so betreten aussah, als habe unvermuthet ein allzukräftiger Luftzug ihr vornehmes Gesicht angeblasen, Flora aber brach in ein helles Gelächter aus. „Kind Gottes, Du bist kostbar naiv,“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Ja, ja: ‚Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern,‘“ recitirte sie. „Mit einer solchen Aeußerung müßte unser Jüngstes nächstens in Moritzens großer Soirée debütiren, Großmama; da würden sie die Ohren spitzen!“ Sie blinzelte die alte Dame schadenfroh an, die jedoch ihr Gleichgewicht schon wieder gefunden hatte.

„Ich vertraue dem angeborenen Tact Deiner Schwester, mein Kind,“ sagte sie, ihre Hand nebenbei nun auch dem Doctor zur Begrüßung hinstreckend. Dazu lächelte sie mit jenem feinen Zusammenziehen der Lippen, das nur einen Schein der Zahnspitzen sehen ließ und von welchem man nie wußte, ob es süß oder sauer war.

„Tact, Tact – der wird viel helfen,“ wiederholte Flora, den Kopf spöttisch wiegend. „Die Müllerreminiscenz ist ihr genau ebenso angeboren. Die gute Lukas hat es eben nicht verstanden, ihr ein wenig Weltklugheit einzupauken – da fehlt’s. Uebrigens bin ich wirklich froh, daß Du allein gekommen bist, Käthe; ich hoffe, es wird sich so besser mit Dir leben lassen, als wenn Du am Rock Deiner alten hausbackenen Gouvernante hängst.“

Käthe hatte das Barett abgenommen; die schwüle Blumenluft trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Jetzt, mit der dicken, goldbraunen Haarflechte über der Stirn, sah sie noch größer aus.

„Hausbacken? Meine Doctorin?“ rief sie lebhaft. „Eine poesievollere Frau läßt sich nicht denken.“

„Ei, was Du sagst! Sie schwärmt wohl den Mond an, schreibt empfindsame Verse ab, etc. Oder dichtet sie gar selbst? Wie?“

Das junge Mädchen richtete die glänzenden Augen mit klugem Blicke auf das Gesicht der Spötterin. „Verse nicht, aber die Manuscripte ihres Mannes schreibt sie ab, weil die Setzer der medicinischen Zeitschrift seine wunderlichen Krakelfüße absolut nicht entziffern können,“ sagte sie nach einem kurzen Moment schweigender Prüfung. „Sie schreibt auch keine eigenen Verse oder Novellen – dazu fehlt ihr die Zeit, und doch dichtet sie. … Ach, Du lächelst noch genau so wie früher, Flora, so tief und so scharf in den Mundwinkeln, aber das Spottlächeln scheucht mich nicht mehr in die Ecken; ich habe eine streitbare Ader und behaupte weiter: Sie dichtet doch in der Art und Weise, wie sie das Leben nimmt und ihm stets eine Seite abzugewinnen weiß, von der ein verklärendes Licht ausgeht, wie sie ihr einfaches Heim ausschmückt – aus jedem Eckchen guckt ein schöner Gedanke – und wie sie es unsäglich gemüthlich und doch ästhetisch anregend für ihren braven Mann und mich alten Kindskopf und die wenigen auserwählten Freunde des Hauses zu erhalten versteht.“

In diesem Augenblicke flog ein ganzer Regen von frischen Veilchen gegen die Brust des jungen Mädchens und rieselte auf den Fußboden nieder,

„Bravo, Käthe!“ rief Henriette. Sie stand im Wintergarten, dicht am Gitter, und preßte die bleichen Hände auf ihre heftig athmende Brust. „Ich möchte Dir gleich um den Hals fliegen, aber – sieh mich doch an! – müßte das nicht zum Todtlachen sein? Du, so kerngesund an Leib und Seele, und ich –“ ihre Stimme versagte.

Käthe warf das Barett, das sie noch in der Linken hielt, von sich und flog zu ihr. Sie umschlang zärtlich die schwache Gestalt, aber die Thränen des Erbarmens und die Betroffenheit darüber, daß das Gesicht der Schwester „so entsetzlich abgemagert“, wurden weislich unterdrückt.

Flora biß sich auf die Lippen. „Das Jüngste“ war nicht nur imposant an Leibesgestalt geworden, es hatte auch in den hellen Augen und auf den Lippen den seltenen Freimuth innerer Unabhängigkeit, der manchmal so unbequem werden kann. Ihr kam plötzlich die dunkle Ahnung, als trete mit dem kraftvollen Mädchen dort eine schattenwerfende Gestalt in ihr Leben. … Sie nahm hastig den Hut ab und fuhr mit beiden Händen auflockernd durch die zerdrückten Scheitellöckchen. „Hast Du das poetische Reisebündelchen da wirklich von Dresden mitgebracht?“ fragte sie trocken, mit einem blinzelnden Seitenblicke nach dem zusammengeknüpften weißen Tuche am Arme der Angekommenen.

Das junge Mädchen löste die verschlungenen Enden und reichte Henriette die Taube hin. „Ein kleiner Patient, der Dir gehört,“ sagte sie. „Das arme Ding ist flügellahm geschossen. Es fiel im Schloßmühlenhofe auf das Pflaster.

Da war bereits die Einkehr in der Mühle verrathen, allein die Präsidentin schien die letzten Worte ganz zu überhören; sie zeigte tief empört auf das verwundete Thierchen und sagte, nach dem Commerzienrathe zurückgewendet, mit strafendem Vorwurfe: „Das ist nun die vierte, Moritz.“

„Und noch dazu mein Liebling, mein Silberköpfchen!“ rief Henriette und wischte sich eine Thräne des Schmerzes und der Erbitterung von den Wimpern.

Der Commerzienrath war ganz blaß vor Schreck und Aerger. „Liebe Großmama, ich bitte Sie dringend, machen Sie mir daraus keinen Vorwurf mehr!“ rief er fast heftig. „Ich thue, was möglich ist, um diesen bodenlosen Nichtswürdigkeiten auf die Spur zu kommen und sie zu verhindern, aber der Thäter versteckt sich hinter der Phalanx von zweihundert erbitterten Menschen“ – er zuckte die Achseln – „da läßt sich gar nichts thun. Ich habe auch deshalb Henriette wiederholt gebeten, ihre Tauben einzuschließen, bis die Aufregung vorüber ist.“

„Also wir werden in der That die Nachgebenden sein müssen? Es wird immer besser,“ sagte die alte Dame sehr anzüglich; sie zog und rückte an der Schleierwolke, die ihr um Gesicht und Hals lag, als ob ihr die innere Aufwallung unerträglich warm mache. „Sagst Du Dir nicht selbst, Moritz, daß eine solche Gleichgültigkeit die Verwegenheit geradezu herausfordert? Man wird das geduldete Taubenschießen nachgerade langweilig finden und sich edleres Wild aussuchen.“


(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_060.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)