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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 4.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


4.

Auf der Spinnerei schlug es Fünf, als Käthe in Doctor Bruck’s Begleitung wieder in den Hof trat. Es war kälter geworden, und die uralte halbverwischte Sonnenuhr am Giebel, die heute, im goldenen Frühlingslicht neu auflebend, mit scharfem Finger die Stunden bezeichnet hatte, sah wieder trübselig verlassen und verwittert aus.

Das helle Geklingel der Thürschelle lockte Franz wieder heraus auf die kleine Freitreppe, und auch seine Frau folgte ihm neugierig mit langem Halse, um die heimgekehrte junge Herrin zu begucken. Käthe bat sie, während ihrer Abwesenheit fleißig nach der Kranken zu sehen, was auch heilig und theuer versprochen wurde. In diesem Augenblick rauschte es in den Lüften, und gleich darauf stürzte eine schöne Taube herab und blieb hülflos aus dem Steinpflaster liegen.

„Schwerenoth, nehmen denn die Bubenstreiche kein Ende?“ fluchte Franz, indem er die Treppe herabsprang und das Thierchen aufhob – es war flügellahm geschossen. „Da guck’ her, Frau!“ sagte er zu der Müllerin. „’s ist keine von unseren – ich dachte mir’s gleich. ’s ist ein gottheilloses Volk da drüben. Die schießen der armen Dame ihre Prachttauben nur so vor der Nase weg. Na, ich sollte nur der Herr Commerzienrath sein!“ Er schüttelte die Faust.

„Wer ist denn die arme Dame, Franz? Und wer schießt nach ihren Tauben?“ fragte Käthe mit großen Augen.

„Er meint Henriette,“ sagte Doctor Bruck.

„Und drüben aus der Spinnerei wird geschossen,“ platzte Franz ingrimmig heraus.

„Wie, die Fabrikarbeiter meines Schwagers?“

„Ja, ja, die sein Brod essen, Fräulein. ’s ist eine Sünde und Schande. Da haben Sie die Bescheerung, Herr Doctor! Da sehen Sie ja nun, was das für eine Brut ist. Sie wollen bei denen Alles mit Liebe und Güte durchsetzen – ja, da werden Sie weit kommen. Was haben denn solche brave Leute, wie Sie, von der Gutheit? Lange Nasen macht Ihnen die Gesellschaft. … Die Faust auf’s Auge! ’runter müssen sie. Das ist meine Meinung – sonst ist kein Aushaltens.“

„Strikt man hier auch? fragte Käthe den Doctor, dem ein so schönes, ernstes Lächeln um die Lippen schwebte, daß sie das Auge nicht von ihm wenden konnte.

„Nein, die Sache liegt anders,“ sagte er, den Kopf schüttelnd. Seine ruhige Stimme klang imponirend neben Franzens heftigem Gepolter. „Mehrere der ersten Arbeiter im Besitz einiger Capitalien, hatten Moritz gebeten, ihnen beim Zerschlagen des Rittergutes zu einem Stück Land zu verhelfen, das, an sich öde und von geringem Ackerwerth, ziemlich nahe der Fabrik unbenutzt liegt. Sie wollten Häuser bauen mit Miethwohnungen auch für die ärmeren Arbeiterfamilien, die den theuren Miethzins in der Stadt fast nicht mehr erschwingen können. Der Commerzienrath hat ihnen auch Versprechungen gemacht; er konnte das um so eher, als der begehrte Streifen Landes noch zu seinem Park gehört –“

„Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich Sie unterbreche!“ fiel Franz ein; „gerade deshalb durfte er’s nicht. Ich hab’ mir’s gleich gedacht, daß das die Frau Präsidentin nicht zugiebt. Wer läßt sich denn auch eine solche Nachbarschaft gefallen, wenn er nicht muß? Und richtig – die Damen drüben sind furchtbar böse geworden, und haben’s ein- für allemal nicht gelitten, daß die Bauplätze abgegeben worden sind, ‚es sollten neue Anpflanzungen gemacht werden‘, hat’s geheißen, und damit war die Sache abgemacht. Nun sind sie wüthend in der Fabrik und thun Schabernak und rächen sich, wo sie können.“

„Freilich eine erbärmliche Rache! – Du armes Ding!“ sagte Käthe und nahm die Taube aus Franzens Hand.

„Das Beklagenswerthe dabei ist, daß diese Rohheit Einzelner auf einen ganzen Stand strafend zurückwirkt. Man wird der Präsidentin keinen Vorwurf mehr daraus machen dürfen, daß sie solche Elemente nicht in ihrer Nähe dulden will,“ sprach Doctor Bruck mit verfinstertem Gesicht.

„Das sehe ich nicht ein. Es giebt Boshafte und Rachsüchtige in allen Ständen,“ versetzte das junge Mädchen rasch und lebhaft. „Ich verkehre oft in den unteren Classen; mein Pflegevater hat viele arme Patienten, und wo außer seinen Medicamenten auch kräftige Suppen und sonstige Nachhülfe in der Pflege noththun, da unterstützt ihn meine liebe Doctorin nach Möglichkeit, und ich gehe selbstverständlich auch mit. Man stößt auf viel Undank und Rohheit, das ist wahr, oft aber auch auf brave und edle Gesinnungen, Noth und Elend aber sind meist so herzerschütternd –“

„Ist nicht so schlimm, wie Sie denken, Fräulein – das Volk verstellt sich,“ unterbrach sie Franz mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Käthe maß ihn einen Augenblick schweigend von unten herauf mit einem sprechenden Blick. „Sieh, sieh, was für ein vornehmer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_057.jpg&oldid=- (Version vom 13.6.2019)