Seite:Die Gartenlaube (1876) 049.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

die Hände auf die Kniee gestützt; ich trat vor dieselbe und bat sie, die Augen einige Minuten lang scharf auf meinen gegen die Spitze ihrer Nase gehaltenen Zeigefinger zu richten. Dies geschah, jedoch ohne Erfolg; die Dame klagte nur, durch die Anstrengung ein gewisses unbehagliches Spannen im Kopfe zu empfinden. Die anwesenden Anhänger des Magnetismus dagegen meinten, auf diese Weise könne das Experiment nicht gelingen; es sei unerläßlich, kreisförmige Bewegungen um den Kopf des betreffenden Individuums zu beschreiben, damit die magnetischen Kräfte aus meinen Händen als Nervenfluidum auf die sitzende Person übergehen könnten.

In Folge dieser Gespräche und der sie begleitenden Manipulationen bemächtigte sich der ganzen Gesellschaft eine eigenthümliche Erregung. Ich entdeckte unter den Anwesenden einen blassen Jüngling, welcher für die Vorkommnisse ein ganz besonderes Interesse, eine gespannte Aufmerksamkeit zu haben und zu dem Experimente sehr geeignet zu sein schien. Auf meinen Vorschlag, ihn „magnetisiren“ zu wollen, ging er bereitwillig ein. Er setzte sich auf den Sessel, welchen die Dame verlassen hatte, während ich die Gesellschaft ersuchte, absolute Ruhe zu beobachten; hierauf hielt ich den Zeigefinger meiner rechten Hand senkrecht gegen den Nasenrücken meines jungen Freundes, indem ich mit der linken Hand seinen Kopf hielt. Nach einigen Minuten beschlich ihn ein eigenthümliches schweres Gefühl im Kopfe; ich forderte ihn auf, meinen Finger mit beiden Augen weiter scharf zu fixiren, welchem Verlangen er durch ein krampfhaftes Schielen nach einwärts nachzukommen versuchte. Da – plötzlich – ließ er beide Arme sinken, streckte zum Schrecken aller Anwesenden, die Beine weit aus, öffnete krampfhaft die Augenlider und starrte mit gebanntem Blicke ganz ähnlich wie Madame de B........... auf dem Brüsseler Spiritistencongresse, nach der Decke des Zimmers. Er war plötzlich in einen Zustand von wahrhafter Katalepsie und Hypnotismus verfallen, in eine Bewußtlosigkeit, welche neun und eine halbe Minute andauerte. Die Zeit wurde für die Zuschauer eine peinigend lange, aus dem Spiele war zu Aller Entsetzen ein ungeahnter Ernst geworden. Während des kataleptischen Zustandes war der Schlafende sowohl gegen Nadelstiche, als auch für jedes Anrufen unempfindlich. Ein vor seine Augen gehaltenes Licht machte auf seine Pupille durchaus keinen Eindruck; dieselbe blieb unbeweglich und starr, gleich als ob sie mit einer Atropinlösung, dem bekannten Mittel zur vorübergehenden künstlichen Lähmung der Ciliar-Augenmuskeln, behandelt worden wäre. Nach Ablauf der genannten Zeit fing unser Held sich zu regen an. Wir rüttelten ihn wach – er rieb sich die Augen, und nach einigen Minuten befand er sich wieder ganz wohl und in demselben normalen Stadium, wie vor dem Experimente; von den Vorkommnissen selbst wußte er Nichts; er glaubte kurze Zeit geschlafen zu haben.

Einen ähnlichen merkwürdigen Fall erzählt der berühmte französische Kinderarzt Dr. Bouchut in der zu Paris erscheinenden „Gazette des Hôpitaux“: Ein Mädchen von zehn Jahren, welches stets der besten Gesundheit sich erfreut hatte und niemals irgend welchem krampfartigen nervösen Leiden ausgesetzt war, wurde unter eigenthümlichen Umständen in das Kinderkrankenhaus gebracht. Die Kleine war fünf Monate vorher zum Lernen in eine Nähschule geschickt worden, woselbst sie tagtäglich dazu angehalten wurde, an Herrenwesten zu arbeiten. Bekanntlich ist es unter den Arbeiterinnen in Paris Gebrauch, daß sie ihre Kinder schon in frühester Jugend an eine Specialität gewöhnen, und so war unsere Kleine dazu ausersehen, sich eine specielle Uebung in der Anfertigung der Knopflöcher genannter Kleidungsstücke anzueignen. Nachdem sie diese Kunst gelernt und sich einen Monat lang mit der Bethätigung derselben beschäftigt hatte, trat in ihrer Arbeit eine kleine Pause ein. Als sie nach einigen Tagen die Arbeit wieder begann, verlor sie im Moment, wo sie ein Knopfloch einzufassen sich anschickte, ihr Bewußtsein und schlief eine Stunde. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war und ihre Arbeit wieder aufgenommen, fand derselbe Zufall immer wieder statt, wenn ein Knopfloch einzufassen war; stets trat ein neuer Schlafanfall ein. Die Umgebung glaubte, daß hier ein Zauber zu Grunde liege und daß jedesmal, wenn das Kind an die genannte Arbeit ging, ein böser Geist es von derselben abhalte. Merkwürdigerweise konnte das Kind jede andere Arbeit ausführen. Es konnte ungefährdet der Länge nach nähen, Schleifen machen, Perlen einfädeln und dergleichen, ohne in den genannten Schlaf zu verfallen. Einzig und allein die Knopflöcher hatten eine magische Gewalt über das kleine Wesen.

Diese Zufälle wiederholten sich acht bis zehn Mal am Tage. Die Mutter war trostlos, und unter diesen Verhältnissen brachte sie das Kind in’s Hospital zu Dr. Bouchut. Im Krankensaale ließ letzterer das Kind vor seinen Augen Knopflöcher nähen. Kaum hatte es einige Stiche gemacht, als es nach ungefähr einer Minute vom Stuhle fiel, ohne jeden Versuch sich zu schützen, fest auf den Boden aufschlug und daselbst vollkommen eingeschlafen war. Das Kind wurde zu Bette gebracht; es war von vollständiger Katalepsie der Arme und Beine befallen. Die Pupillen der Augen hatten sich erweitert; der Pulsschlag war langsamer geworden und vollkommene Unempfindlichkeit eingetreten; man konnte es an allen möglichen Stellen des Körpers kneifen und stechen, ohne ihm den geringsten Schmerz zu verursachen. Dieser anästhetische (empfindungslose) Zustand dauerte drei Stunden, worauf das Kind wieder zu sich kam und durchaus nichts Unangenehmes verspürte. Das Experiment wurde am andern Tage wiederholt, dauerte aber nur eine Stunde. Um eine Probe zu machen, ließ Dr. Bouchut am dritten Tage das Kind mit Aufmerksamkeit einen silbernen Bleistift fixiren, welchen er ihm zehn Centimeter von der Nasenwurzel entfernt vor die Augen hielt, und siehe da, dieselben Erscheinungen traten ein. Als das Kind wieder aufwachte, klagte es weder über Kopfweh noch über Augenschmerzen, noch war in den Körperfunctionen eine Unregelmäßigkeit eingetreten; Appetit, Verdauung und Blutcirculation waren normal.

Bei der Jugend der Kleinen ist Hysterie unbedingt auszuschließen, auch hatte der Zustand durchaus keinen epileptischen Charakter. Es war nur der oben geschilderte Hypnotismus eingetreten, die Abspannung der Nerven, der natürliche Schlaf, welchen die Magnetiseure seit Jahren zu ihren trügerischen Experimenten auszubeuten verstehen. Während das Kind sich anschickte, die Knopflöcher zu nähen, lenkte es beide Augen auf einen Punkt. Es trat in der directen Verbindung des Sehnerven mit dem Gehirn ein Reizzustand ein, und der momentane Hypnotismus war die Folge jenes Einflusses. Es kann durchaus nicht angenommen werden, daß ein so junges Kind sich interessant zu machen suchte, oder eine Täuschung im Spiele gewesen wäre. Der Vorgang ist vom physiologischen Standpunkte aus ganz natürlich zu erklären. Nachdem das Kind längere Zeit in dem Hospitale verweilt hatte, hörten die Zufälle allmählich auf und sind bei einiger Schonung der Augen nicht wieder zurückgekehrt. Daß bei vielen Menschen, welche sich mit sehr feinen Arbeiten befassen, durch Ueberanstrengung der Augen oft Kopfschmerzen und Reizzustände der Gehirnnerven eintreten, ist Jedermann bekannt. Daß diese Gehirnaffectionen bei empfindsamen Personen in Hypnotismus ausarten können, beweisen obige Beispiele. Die Erscheinung erklärt sich durch eine momentane Blutüberfüllung des Gehirns, welche mit Leichtigkeit durch den Augenspiegel constatirt werden kann. Dr. Bouchut untersuchte seine kleine Patientin mit dem genannten Instrumente vor, während und nach dem schlafähnlichen Zustande und fand, daß die aus dem Gehirn in das Auge eintretenden Blutgefäße während des hypnotischen Zustandes sich bedeutend erweitert hatten und der mit dem Gehirn in directer Verbindung stehende Hintergrund des Auges eine tiefrothe Farbe annahm, welche im wachen Zustande wieder verschwand.

Die Entdeckung des Hypnotismus bei den Menschen lehrt uns die Ursachen aller jener Vorkommnisse kennen, welche man bisher einer übernatürlichen Beeinflussung oder der Existenz eines sogenannten thierischen Magnetismus zugeschrieben hat. Indem wir nachgewiesen, daß die Ermüdung des Gesichtssinnes durch Fixirung des Blickes den Schlaf und eine eigenthümliche Abwesenheit der Sinne und besonders des Gefühls hervorbringt, ist der sogenannten Ekstase, mag sie mysterisch-religiöser oder spiritistischer Natur sein, der Boden entrückt. Der Hypnotismus nimmt den verschiedensten bisher berichteten Begebenheiten dieser Art den übernatürlichen Charakter; die Göttlichkeit des Wunders auf der einen Seite, das Fluidum des Magnetiseurs auf der andern Seite sind vernichtet; einzig und allein die feinen Nervengeflechte, welche die Blutgefäße regieren, begründen jene Erscheinungen; in der Ermüdung einiger Nervenstämmchen, deren Reiz eine erhöhte Blutcirculation im Gehirne bedingt, liegt die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_049.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2020)