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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Benehmen bemerklich gemacht; den Mantelsack in der Hand, verlangte er, unverzüglich an’s Land gesetzt zu werden, weil er nothwendig telegraphiren müsse. Als sein Begehren, weil unmöglich, abgewiesen, hatte man ihn öfter aus einer Flasche trinken sehen, dann war er verschwunden. Gegen fünf Uhr hört man Aechzen und Stöhnen aus einem der Staterooms. Die Thür ist von innen verschlossen, und nach gewaltsamer Oeffnung findet man Thomas mit geschwollenem blutigem Gesichte bewußtlos am Boden liegend. Der Transport des Verwundeten nach dem Lazareth wird sofort angeordnet; bald darauf findet man in seinem Zimmer einen Revolver – zwei Läufe waren entladen. Man brachte dieses Ereigniß sofort mit der Vermuthung in Verbindung, daß Thomas in irgend welcher Beziehung zu der Unglückskiste stehen müsse. Unter ärztlicher Behandlung kehrte sein Bewußtsein zurück, indeß auf alle an ihn gerichteten Fragen gab er nur die Versicherung seiner Unschuld und als Motiv des Selbstmordversuchs zerrüttete Vermögensverhältnisse an. Selbst die eindringlichsten Vorstellungen des Arztes, der Hinweis auf sein nahes Lebensende, das Seufzen und Jammern der Verwundeten, der Todeskampf der Sterbenden, welche mit ihm in demselben Raume lagen, eingesargt und hinausgetragen wurden, vermochten ihm ein anderes Geständniß nicht zu entreißen.

Da Thomas unter den übrigen Verwundeten des Lazareths lag, so war der Zutritt ohne Schwierigkeiten zu erlangen, aber schwer war es, in ihm den vielgereisten, eleganten Mitpassagier aus Bremen zu erkennen, welcher den Mitreisenden durch seine Unterhaltung die Eisenbahnfahrt so angenehm verkürzt hatte. Die Schußwunde vorn rechts am Scheitelbein war nur wenig sichtbar, das rechte Auge dagegen stark verschwollen. Die linke Hälfte des Gesichts sowie die ganze linke Körperhälfte waren gelähmt; der Blick des kleinen grauen Auges wurde nicht mehr durch die Brille verschleiert und hatte etwas Lauerndes, Stechendes. Der Gesichtsausdruck, noch gestern Energie und Intelligenz verrathend, war durch die Lähmung entstellt und verwischt.

Noch ist der Schleier nicht vollständig gelüftet, welcher auf dem Leben dieses Mannes ruht, der, zwei Tage lang schweigend mit der Todeswunde im Kopfe daliegend, nicht das Bedürfniß empfindet, sein schwer belastetes Gewissen durch ein offenes Bekenntniß zu erleichtern. Erst am dritten Tage gelingt es der imponirenden Ruhe, der humanen Behandlungsweise und dem psychologischen Scharfblicke des Polizeicommissärs S., den Mann an der Seele zu fassen, sein hartes verstocktes Gemüth dadurch zu rühren, daß er ihm das traurige Schicksal seiner unglücklichen Frau und seiner armen, unschuldigen Kinder eindringlich zu schildern weiß. Während der krampfhafte Griff der rechten Hand den furchtbaren Seelenkampf des Verbrechers verräth, erklärt er sich bereit, ein Geständniß ablegen zu wollen. Zögernd und stockend, aber mit vollem Bewußtsein und kalter Ueberlegung beantwortet er die an ihn gerichteten Fragen, nicht ohne mannigfache Widersprüche und Versuche, durch simulirte Bedürfnisse der verlangten Antwort auszuweichen. So gelingt es der geschickt geleiteten Untersuchung, den Plan einer Unthat zu entlarven, welche in ihrer grauenhaften Unmenschlichkeit kaum ein Seitenstück in der Verbrecherchronik findet.

Thomas giebt zu, Eigenthümer des explodirten Collo gewesen zu sein. Nach seiner Aussage war es ein schweres Faß, in Bremen angefertigt, dort von ihm selbst mit Sprengstoffen aus New-York gefüllt und für seinen verbrecherischen Zweck vorbereitet. Als Zünder enthielt dasselbe ein Uhrwerk, welches zehn Tage ging, geräuschlos arbeitete und nach Ablauf einen Hebel auslöste, wodurch ein Zündbolzen mit dem Drucke eines Hammers von dreißig Pfund vorgeschleudert wurde. Außer dem Fasse sollten in Southampton noch verschiedene sehr hoch versicherte Colli werthlosen Inhalts in der „Mosel“ verladen werden, um dem Verbrecher nach dem mit Sicherheit vorauszusehenden Untergange des Schiffes die bedeutende Versicherungssumme einzutragen. Zu diesem Zwecke wollte Thomas in England zurückbleiben, um dort den Verlauf seiner erbarmungslosen teuflischen Speculation abzuwarten. Sofort angestellte Nachforschungen bestätigen diese Aussagen vollständig. Ueber die Natur des Sprengstoffes hat Thomas jede Auskunft verweigert; das Schlagwerk wurde von einem geschickten Uhrmacher in Bernburg in seinem Auftrage, unter Angabe eines harmlosen Zweckes, angefertigt und bei der Abnahme eine weitere Bestellung von zwanzig anderen solcher Uhren in Aussicht gestellt. (Siehe das Feuilleton der vorigen Nummer dieses Blattes!) Durch einen Stoß beim Verladen des schweren Fasses wird die Auslösung erfolgt sein. Die Explosion wurde auf der Kaje von Bremerhaven, statt nach zehntägiger Reise an Bord der „Mosel“ herbeigeführt – der seit Jahren vorbereitete Plan war mißlungen; die Revolverkugel zog das Facit der falschen Rechnung des Verbrechers.

Ueber die Vergangenheit und die Lebensverhältnisse des Schuldigen ergab die Untersuchung nur unsichere Resultate, da viele seiner Aussagen später von ihm widerrufen wurden. Thomas ist etwa fünfundvierzig Jahre alt; er will in New-York geboren sein; seine Eltern sollen in den dreißiger Jahren von Deutschland dorthin ausgewandert sein und später in Virginien gelebt haben. Während des amerikanischen Krieges behauptet er Capitain des bekannten Blokadebrechers „Old Dominion“ gewesen zu sein; dann in die Gefangenschaft der Nordstaaten gerathen, ist er geflohen, hat seinen Namen gewechselt und sich bald darauf in St. Louis mit seiner jetzigen Frau verheirathet. Mehrere Indicien gaben Veranlassung zu der Annahme, daß sein wirklicher Name Alexander gewesen ist. Auch seiner Frau gegenüber hüllte er sein Thun und Treiben und seine ganze Vergangenheit in das tiefste Geheimniß, war daneben aber der zärtlichste Gatte und seinen vier Kindern der liebevollste Vater. Seit mehreren Jahren lebte er in verschiedenen Städten Deutschlands, in Leipzig, Linz und in der letzten Zeit in Strehlen bei Dresden. Dem Anscheine nach ohne Erwerb, bewegte er sich als wohlhabender Mann stets in guter Gesellschaft und war als feiner jovialer Gesellschafter überall beliebt und gern gesehen. Er ist viel von seiner Frau getrennt gewesen und hat neuerdings mehrere Reisen nach Amerika gemacht, angeblich in Geschäften, um Geldverluste durch neue Unternehmungen zu ersetzen. In seiner Brieftasche fand man noch vierundzwanzig Pfund Sterling mit der Bemerkung: „Für meine Frau und meine armen Kinder!“ und eine Abrechnung von Baring Brothers in London über dreitausend Pfund Sterling, welche er dort deponirt und in den letzten Jahren erhoben und verzehrt hatte. Eine Haussuchung in Strehlen blieb resultatlos.

Frau Thomas, durch eine amtliche Depesche nach Bremerhaven befohlen, kam Dienstag Morgen gerade in dem Augenblicke an, als die Trauer einer ganzen Stadt dreiundvierzig Opfer der Bosheit ihres Mannes zu Grabe geleitete. Thomas äußerte kaum ein ernstliches Verlangen, seine Frau zu sehen; seinem Arzte gegenüber konnte er sogar eine auf dieselbe bezügliche cynische Bemerkung nicht unterdrücken. Ein Brief von ihr, in den zärtlichsten Ausdrücken und mit der Versicherung geschrieben, daß seine armen Kinder täglich für das Seelenheil ihres unglücklichen Vaters beten, macht trotz klarsten Bewußtseins des hartherzigen Mannes kaum einen sichtlichen Eindruck auf ihn. Zu weiteren Geständnissen auf keine Weise zu veranlassen, wendet er sich am letzten Abend seines Lebens mit der Klage an den Arzt, daß man ihm gar keine Ruhe lasse, ihn noch immer mit Fragen belästige und erwidert auf die Mahnung, doch endlich die volle Wahrheit zu sagen: „man hat mich ganz confusionirt.“ Am folgenden Morgen trat in dem Befinden des Thomas ein Zustand ein, der eine weitere Vernehmung unmöglich machte und sein baldiges Ende voraussehen ließ. Seine Frau wurde ihm zugeführt; er erkannte sie und versuchte, ihr die gelähmte Hand zu reichen. Diese Frau hat eine seltsame Rolle im Krankenhause gespielt, für alle Anwesenden im höchsten Grade peinlich. Sie hat die behandelnden Aerzte wiederholt aufgefordert, ihren Mann zu tödten, um seine Leiden abzukürzen. („O dear doctor, kill him, kill him!“ hörte man sie mehrmals ausrufen.) Am Tage vorher äußerte sie gar kein dringendes Verlangen, ihren Mann zu besuchen; auch wollte sie ihn anfangs im Lazareth nicht sehen und bat nur, seine Hand küssen zu dürfen.

Die Frau reiste nach Dresden zurück, und Nachmittags endete ein furchtbarer Todeskampf das Leben des beispiellosen Verbrechers. Ohne eine Spur von Reue ist er aus der Welt gegangen, ein moderner Herostratus, der ohne ein Zucken seines Gewissens Hunderte von Mitmenschen opfern konnte, nur um sich vielleicht für einige Jahre die Existenzmittel zu einem behaglichen Leben zu verschaffen.

Hoffentlich sind damit die Acten der Unthat noch nicht geschlossen; vielleicht hat die Untersuchung Thatsachen ergeben, die, noch nicht zur öffentlichen Kenntniß gelangt, dem Ursprunge

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_037.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)