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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

kalten Winter ein dünnes Kattunkleid. Von dem Manne sagte sie, er sei ‚über Land‘, um Geschäfte zu machen. Das glaubte sie gewiß, aber mit dem ‚Ueberlandsein‘ hatte es eine eigene Bewandtniß, und man flüsterte in der Gemeinde darüber, daß er mit Geld in der Tasche und mit einer Uhrkette mit goldenem Petschaft zurückkam. Du weißt, mein Kind, daß damals noch jedes deutsche Ländchen seine eigenen Zollschranken hatte; wir waren gegen Hannover wie gegen Frankfurt zu abgesperrt, und die Waaren, die zumal von Hamburg reichlich zu uns herüberkamen, mußten an der Grenze, in Landwehrhagen, theuer verzollt werden. Da bildeten sich denn allerlei Schlupfwinkel, wohin die Schwärzer nächtlich ihren Vorrath trugen und in unterirdischen Magazinen anhäuften, von wo sie auf Schleichwegen in die Stadt gebracht wurden. Die Grenzjäger streiften nun bei Tage und bei Nacht, solche Spelunken zu entdecken und aufzuheben, um so mehr, als allerlei Diebsgesindel für gestohlene Güter dort guten Absatz fand; die Strafen wider solche Schwärzer und Hehler wurden stets verschärft, und es gab keine Gnade für die Ertappten.

Da hieß es eines Tages – es war in der Woche vor den großen Festtagen –, es sei bei Landwehrhagen ein solcher Diebs- und Schmugglerkeller entdeckt und aufgehoben worden und die Rädelsführer würden in Eisen hereingebracht. Ich hörte das ziemlich gleichgültig erzählen, und weil ein häusliches Weib nicht viel auf die Gasse hinaussehen kann, so wäre mir, hätte ich nicht gerade selbst die Fensterscheiben geputzt, der ganze Spectakel entgangen, als sie auf einem Leiterwagen, der auf beiden Seiten von Grenzjägern escortirt war, die Gefangenen über den Markt nach den Casematten führten. Aber so ließ mich das Geschrei des Pöbels und das Gejohle der Gassenjungen, aus dem ich den Ausruf ‚Jidde, Jidde!‘ (Jude) vernahm, den Kopf hinauslehnen – und hätte ich mich nicht an das Fensterkreuz gehalten, so wäre ich vor Schrecken zusammengestürzt; denn auf der vordersten Bank des Leiterwagens, die Hände kreuzweis mit Stricken gebunden, saß ‚Er‘, der unglückliche Mann meiner armen Tante Guttraud.

Was soll ich Dir sagen, Kind? Der Schreck hatte mir fast die Füße gelähmt. Es war ein Alarm in der Stadt, ärger als bei einer Feuersbrunst. Vor den Thüren und aus den Fenstern schrieen die Nachbarsleute Schimpfwörter auf ihn und auf die Juden; ich ließ nur geschwind die Fenster-Rouleaux herab. Dein Vater kam vom Comptoir nach Hause, todtenbleich. Die ganze Gemeinde war von dem Schlage getroffen, denn wenn bei uns ein Jude etwas angestellt hat, so läßt man’s gleich die ganze Gemeinde entgelten. Ich dachte nicht an die Gemeinde, als Dein Vater mir erzählte, der Unglückliche sei seit langer Zeit das Haupt der Hehler und Schwärzer gewesen. ‚Arme Tante Guttraud!‘ war Alles, was ich hervorbringen konnte.

‚Geh hinüber!‘ sagte Dein Vater in seiner Güte.

Ich ging. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich in bloßem Kopfe über die Gasse ging. Unterwegs wollte ich mir’s zurechtlegen, was ich ihr zum Troste sagen sollte – aber mir fiel nichts ein als: Arme Tante Guttraud!

Als ich hinaufkam, fand ich die Mädchen in thränenloser wilder Verzweiflung; ihre bitteren Worte und Flüche widerten mich an. Die Mutter sei fort, wohin, wüßten sie nicht, zur Polizei, oder in’s Gefangenhaus, oder zum Vorsteher der Gemeinde. Sie hätten es längst geahnt, obwohl er das Sündengeld allein verschlemmt und nichts davon heimgebracht habe; sie hätten ihn stets gehaßt. Aber die Mutter sei blind; sie dulde kein Wort über ‚ihn‘, nicht als ob sie ihn liebe, oder für besser halte, als er sei; nur die Unterwürfigkeit und die Treue sei bei ihr zur albernen Leidenschaft geworden. Nun seien sie Alle entehrt. Sie wollten lieber gleich in die Fulde springen. Mit Mühe bändigte ich ihr unheimliches Geschrei, als die Thür aufging und die Tante hereintrat.

Ich war erstaunt, sie so aufrecht und fast unverändert zu sehen; nur noch bleicher war ihr Gesicht; unter die großen braunen Augen hatten sich tiefe blaue Ringe gelegt, und ihre Wimpern zuckten fortwährend wie von sichtbaren Pulsschlägen. Ich fiel ihr laut weinend um den Hals; die Mädchen verstummten.

‚Meine gute Betty,‘ sagte sie mit ruhiger Stimme, ‚es ist eine schwere Prüfung von Gott, aber was Gott thut, das ist wohlgethan.‘

‚Das hat Gott gethan?‘ schrie die Aelteste mit krampfhaftem, herzzerreißendem Lachen.

Die Mutter richtete sich mächtig auf; ihr großer Blick fiel vernichtend auf die Tochter. ‚Verdammst Du ihn,‘ sprach sie, ‚ehe ihn unsere Saunim (Feinde) verdammen? Ist’s ausgemacht, was er gethan haben soll? Und hat er’s gethan, für wen hat er’s gethan? Um uns bessere Tage zu machen; weil ihn Euere wundgenähten Finger gedauert haben, hat er die seinen – ich will’s nicht aussprechen – Gott hab’ Erbarmen mit ihm! Aber wenn’s die Menschen nicht haben, wenn die Anderen ihn – Gott soll M’schomer und mazil sein (Gott verhüte es) – verdammen und im Stich lassen, ich bin sein Weib und hab’ ihm unter der Chuppe (Trauhimmel) Treue geschworen. Kein Wort will ich hören über ihn, oder so wahr ein Gott lebt, ich laß’ mich einsperren zu ihm in die Casematten.‘

‚Tante Guttraud‘ rief ich, und mit Thränen der Bewunderung wollte ich ihre Hand fassen, aber sie zog dieselbe zurück.

‚Was wunderst Du Dich,‘ sagte sie befremdet, ‚als wäre da weiter was dabei? Sind wir Gojim (Heiden), wo Einer auf sein eigen Blut einen Stein werfen kann? Ich bin, Gott sei Dank, ein jüdisch Weib und weiß, was geschrieben steht. Wie ich denke, denkt Jede, die nicht mewajisch haschem (Gotteslästererin) ist. – Red’ mit Deinem Manne, Bettyleb! Er ist takif (beliebt) beim Bürgermeister. Beim Parneß (Gemeindevorsteher) bin ich umsonst gewesen; er sagt, sie dürfen sich nicht hineinmischen – sie sind froh, wenn man sie nicht hineinmischt, aber der Commissär vom Gefangenhaus, den sie für den größten Rosche (Judenfeind) ausgeschrieen haben, hat mich angehört und hat mir erlaubt, daß ich ‚ihm‘ eine Supp’ bringen darf, so lange er sitzt; so braucht er wenigstens nicht treifes (Verbotenes) zu essen. Und nun sei mauchel (verzeih’), Betty! Ich will in die Küch’, damit ‚er‘ seine Supp’ kriegt.‘

So ging sie hinaus. Ich verwies die Mädchen mit stummem Blicke auf die fromme Dulderin, und als ich ging, sah ich sie in der dunkeln Küche den Topf zusetzen, so sorgfältig, als bereite sie die Suppe für ein krankes Kind.“

Die Mutter hielt eine Weile in ihrer Erzählung inne und fuhr dann fort: „Du mußt nicht glauben, Kind, daß es aus ist; das Schrecklichste, das Herrlichste kommt erst jetzt.

Der Proceß dauerte Wochen lang; da ließ sich nichts machen gegen die Beweise und das eigene Geständniß. Es sind böse Dinge da aufgekommen, die böse Menschen gleich verbreiteten und noch vergrößerten, so daß sie der armen Frau nicht verheimlicht blieben. Doch alles Das änderte nichts an ihrem Benehmen. Sie trug ihm Tag für Tag das Essen in’s Gefangenhaus, erhielt von dem Commissär sogar die Erlaubniß, ihn zu sehen und im Gegenwart von Zeugen mit ihm zu sprechen. Da sprach sie denn mit ihm, aber nur Worte des Trostes, der Milde, der Begütigung und hätte auch ohne Gegenwart der Zeugen gewiß nicht anders zu ihm gesprochen. Sonst wich sie nicht von ihrem Hause, empfing keinen Besuch und trug selbst die Stickereien, die so viel Thränen wie Perlen in sich schlossen, nicht mehr selbst zum Verkaufe. Nur am Abend von Roschhaschonu (Neujahrstag) ging sie wie sonst in die ‚Schule‘. Die frommen geputzten Weiber wichen ihr freilich aus, aber sie bemerkte es nicht und stand, wie sie immer pflegte, auf ihrer ‚Stätte‘, ohne vom Gebetbuche aufzusehen. Nur bei den Owinu-Malkeinu’s (Bitt- und Bußlitanei) bei den Worten: ‚Gedenke, daß wir nur Staub sind!‘ hob sie den Blick so inbrünstig und durchdringend zum Himmel, als wolle sie die Barmherzigkeit Gottes für alle Staubgeborenen herunterholen.

Kurz nach Sukkos (Laubhüttenfest) wurde das Urtheil gefällt. Die Meisten kamen als ‚Verführte‘ mit leichteren Strafen davon; der Rädelsführer wurde zu zehn Jahren in Eisen verurtheilt und – mich schaudert’s jetzt noch, wenn ich es aussprechen soll – zur drei Stunden langen öffentlichen Ausstellung am ‚Pranger‘.

Dieses Urtheil war ein Schreckensschlag für die ganze Gemeinde. Wäre er kein Jude gewesen – so sagte man allgemein – so wäre die Schande, die man seit zehn Jahren bei uns nicht erlebt hatte, gewiß nicht über ihn verhängt worden. Aber die Regierung war damals zum Danke für die errungene ‚deutsche Freiheit‘ sehr fromm und feierte den 18. October nicht nur durch ein Freudenfeuer am ‚Kratzenberg‘, sondern sie hätte auch gern auf dem Holzstoße dort alle Juden verbrannt. Dein guter Vater lief wieder zu dem Bürgermeister Schomburg,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_030.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)