Seite:Die Gartenlaube (1876) 022.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Gerade ich!“ betonte sie. Bei diesen energischen Worten drückte sie den vorgestreckten Fuß sichtlich tiefer in den Teppich. Gerade ich, weil ich nichts Todtgeschwiegenes in meiner Seele dulde – das solltest Du wissen. Ich bin zu stolz, zu wenig hingebend, um die dunkle Verschuldung eines Anderen mitzuwissen und zu verhehlen – sei dieser Andere, wer er wolle! Glaube ja nicht, daß ich dabei nicht leide! Mir geht ein Schwert durch’s Herz, aber Du hast das Wort ‚mitleidslos‘ gebraucht – verdächtiger konntest Du Dich nicht ausdrücken. Mitleid haben mit der Stümperei in der Wissenschaft, das ist absurd, geradezu unmöglich. Darüber aber bist Du doch, so gut wie ich, im Klaren, daß Bruck’s Ruf als Arzt bereits stark gelitten hat durch die gänzlich mißrathene Cur der Gräfin Wallendorf.“

„Ja, ja, die gute Frau hat ihrer Liebhaberei für Gänseleberpastete und Champagner um keinen Preis entsagt.“

„Das behauptet Bruck – die Verwandten haben es widerlegt.“ Sie preßte die Handfläche an die Schläfen, als schmerze ihr der Kopf heftig. Weißt Du, Moritz, als die Nachricht von dem Unglück in der Mühle herübergebracht wurde, da bin ich wie sinnlos draußen im Freien auf- und abgestürmt. In allen Schichten der Bevölkerung war der alte Sommer gekannt, alle Welt interessirte sich für die Operation. Sei es denn, wie Du sagst, daß er nicht sofort unter Bruck’s Händen den Geist aufgegeben hat – die Sachverständigen werden mit Recht behaupten, er habe eben nur, vermöge seiner robusten Natur, einen verlängerten Kampf gekämpft. Willst Du als Laie das besser wissen? Leugne doch nur nicht, daß Du dieselbe Ueberzeugung hegest! Du solltest Dich nur sehen, wie blaß Du bist vor innerer Bewegung.“

In diesem Augenblick that sich eine Seitenthür auf, und die Präsidentin Urach erschien auf der Schwelle. Trotz ihrer siebenzig Jahre konnte man wohl von ihr sagen: sie kam schwebenden Schrittes näher; trotz ihrer siebenzig Jahre war sie eine wunderlich jugendliche Großmama. Sie trug nicht einmal die wohlthätig verhüllende Mantille des Alters; ein weißer, auf den Rücken geknüpfter Spitzenfichu legte sich knapp um Brust und Taille, und auf der perlgrauen Seidenschleppe bauschte ein reichgarnirtes Ueberkleid. Ihr ergrautes, aber noch von glänzenden Streifen der ehemaligen Goldfarbe durchzogenes Haar war in dicken Puffen um die Stirn gesteckt, und über dieser Haarkrone lag schleierartig weißer Blondentüll, dessen lange Enden den Hals und die untere Kinnpartie, diese unerbittlichen Verräther des vorgerückten Alters, zugleich verhüllten.

Sie kam nicht allein. Neben ihr schlüpfte ein wunderliches Wesen herein, eine im Wachsthum sehr unterdrückte Gestalt, nicht gerade unproportionirt in den Gliedern, aber doch auffallend klein und erschreckend mager, und auf diesem dürftigen Körper saß der starkentwickelte Kopf einer jungen Dame von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Die drei im Zimmer anwesenden Frauenköpfe trugen ein und denselben Familienzug – man erkannte sofort die enge Beziehung zwischen der Großmutter und den Enkelinnen; nur bei der Jüngsten erschien das edle, ebenmäßige Profil zu sehr in die Länge gezogen; auch trat das Kinn breiter und energischer hervor. Sie hatte einen kränklichen Teint und seltsam bläuliche Lippen. Durch ihr blondes Haar schlangen sich feuerfarbene Sammetbänder – sie war überhaupt in eleganter Gesellschaftstoilette; nur hing origineller Weise da, wo andere Damen ein Margarethentäschchen tragen, ein ovales Weidenkörbchen, weich gefüttert mit blauen Atlaskißchen, zwischen denen ein Canarienvogel saß.

„Nein, Henriette!“ rief Flora ungeduldig und heftig, als das Vögelchen sofort sein Nest verließ und wie ein Pfeil über ihren Kopf hinflog, „das leide ich absolut nicht. Deine Menagerie lässest Du draußen!“

„Ich bitte Dich, Flora – Hans hat weder Elephantenfüße noch Hörner am Kopfe; er thut Dir nichts,“ sagte die kleine Dame gleichmüthig. „Komm, Hänschen, komm!“ lockte sie das Thierchen, das droben an der Decke kreiste; es kam sogleich pflichtschuldigst herunter und setzte sich auf ihren ausgestreckten Zeigefinger.

Flora wandte sich achselzuckend ab. „Ich begreife Dich und die Anderen drüben wahrhaftig nicht, Großmama,“ sagte sie scharf. „Wie mögt Ihr nur Henriettens Kindereien und Narrheiten dulden? Sie wird Euch nächstens auch ihre sämmtlichen Tauben- und Dohlennester in den Salon schleppen.“

„Ei ja – warum denn nicht, Flora?“ lachte die Kleine und zeigte eine Reihe feiner, scharfer Zähnchen. „Die guten Leute müssen sich ja auch gefallen lassen, daß Du wo möglich mit der Feder hinter dem Ohr einhergehst und stets alle Taschen voll Stubengelahrtheit mitbringst –“

„Henriette!“ unterbrach sie die Präsidentin streng verweisend. Es war eine wahrhaft fürstliche Hoheit in jeder ihrer Bewegungen; auch in der graciösen Art, wie sie dem Commerzienrath ihre schlanke Hand begrüßend hinreichte, lag bei sehr viel Güte und Freundlichkeit dennoch eine nicht zu verkennende Herablassung.

„Wir haben drüben erfahren, daß Du endlich zurückgekommen bist, lieber Moritz; sollen wir noch länger warten?“ fragte sie mit ihrer schönen, immer noch weichen Frauenstimme.

Noch vor zehn Minuten hatte er mit dem festen Vorsatz, schleunigst in den Frack zu schlüpfen, das Haus betreten – jetzt sagte er zögernd und unsicher: „Theuerste Großmama, ich möchte Sie bitten, mich für heute zu entschuldigen – der Vorfall in der Mühle –“

„Nun ja, der Vorfall ist traurig genug, aber weshalb sollen auch wir darunter leiden? … Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich Dich vor meinen Freunden entschuldigen soll.“

„Sie werden doch nicht so schwer von Begriffen sein, die guten Freunde, um nicht zu verstehen, daß Käthe’s Großpapa gestorben ist?“ warf Henriette über die Schulter herüber ein – sie stand vor einem Bücherbrett und las, wie es schien, eifrig die Vignetten.

„Henriette, ich verbitte mir ernstlich Deine naseweisen Bemerkungen,“ sagte die Präsidentin. „Du magst meinetwegen Deinen feuerfarbenen Haarschmuck ein wenig moderiren; denn Käthe ist Deine Stiefschwester, mir und Moritz aber liegt diese Verwandtschaft so weltenfern, daß wir für uns dem Trauerfall officiell keinerlei Bedeutung zugestehen können, so sehr ich ihn auch beklage. Ich möchte überhaupt nicht, daß die Sache an die große Glocke geschlagen würde – Bruck’s wegen – je weniger über den Vorfall gesprochen wird, desto besser.“

„Mein Gott, seid Ihr denn Alle so ungerecht gegen den Doctor?“ rief der Commerzienrath in ausbrechender Verzweiflung. „Ihm ist auch nicht der allergeringste Vorwurf zu machen; er hat seine ganze Kunst, sein ganzes Wissen aufgeboten –“

„Lieber Moritz, darüber mußt Du meinen alten Freund, den Medicinalrath von Bär, hören!“ unterbrach ihn die Präsidentin und klopfte ihn leicht auf die Schulter. Sie winkte bedeutungsvoll mit den Augen nach Flora, die an ihren Schreibtisch getreten war.

„O, genire Dich nur nicht, Großmama! Glaubst Du denn, ich sei so blind und dumm, um mir nicht selbst zu sagen, wie Bär urtheilt?“ rief das schöne Mädchen bitter. Ihre Lippen zuckten wie im Krampf. „Uebrigens hat Bruck bereits sich selbst gerichtet, er hat nicht gewagt, mir heute Abend noch unter die Augen zu treten.“

Henriette hatte bis dahin mit dem Rücken gegen die Anderen gestanden. Jetzt wandte sie sich um; eine hohe Röthe schoß in ihr fahles Gesicht und erlosch ebenso rasch wieder. Das Mädchen hatte ein wunderschönes, tiefes Auge, ein Auge voll leidenschaftlicher Empfindung. Diese großen flimmernden Sterne richteten sich mit einem Gemisch von scheuem Schrecken und jäh aufglühendem Haß auf das Gesicht der Schwester.

„Nun, diesen Verdacht wird er widerlegen – er kommt noch, Flora,“ sagte der Commerzienrath sichtlich erleichtert. „Er wird Dir selbst sagen, daß er den Tag über wie gehetzt gewesen ist. Du weißt ja, daß er mehrere Schwerkranke in der Stadt hat, darunter das arme, kleine Mädchen des Kaufmann Lenz, das heute Nacht noch sterben wird.“

Die junge Dame stieß ein leises, bitteres Lachen aus. „Wird es sterben? Wirklich, Moritz? … Nun sieh, Bär war auch hier bei mir, ehe er zu Großmama ging; er sprach auch von dem Kinde, das er gestern gesehen hatte, und meinte, der Fall sei leicht – er fürchte nur, Bruck sei auf falscher Fährte. Bär ist eine Autorität –“

„Ja, eine Autorität voll zitternden Neides,“ sagte Henriette mit vibrirender Stimme. Sie war rasch hinzugetreten und legte ihre Hand auf den Arm ihres Schwagers. „Gieb es auf, Moritz, Flora zu bekehren! Du siehst doch, sie will ihren Bräutigam schuldig finden.“

„Ich will? … Boshaftes Geschöpf! Ich gäbe sofort

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_022.jpg&oldid=- (Version vom 13.6.2019)