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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

einverstanden sein kann, muß man immerhin anerkennen, daß, was der Künstler giebt, vollkommen berechtigt und durch scharfsinniges Studium aus dem Wesen der Dichtung abgeleitet worden ist. Wie als Charakteristiker und in der Kunst der Maske ist Possart auch als Rhetoriker von eminenter Bedeutung, und nur dadurch ist es ihm möglich, eine Gestalt wie Byron’s Manfred (welche für ein Drama doch nur höchst dürftig geformt und wegen der sich keineswegs steigernden Wiederholungen sehr monoton ist) so herauszuarbeiten, daß man sie wie wirkliches Leben zu ergreifen vermag.

Lange Zeit bekleidete Ernst Possart auch die Stelle eines Regisseurs und wußte in dieser Periode durch außerordentliche Sicherheit und rasche Eleganz den Vorstellungen ein eigenthümliches Gepräge zu geben. Die Ueberlast der Geschäfte hieß ihn um Befreiung von derselben nachsuchen, und der König entsprach der Bitte, damit unter dem Regisseur nicht der Schauspieler Schaden leide.

Jetzt lebt er nur seiner ausübenden Kunst, daß er aber darüber der anordnenden Bühnenthätigkeit nicht völlig untreu geworden, beweist, nebst seiner unlängst im Buchhandel erschienenen Bearbeitung von Shakespeare’s „Lear“, die vor Kurzem auf Anregung seines kunstsinnigen Chefs, des Freiherrn von Perfall, mit ihm getroffene Vereinbarung, nach welcher Possart in Zukunft, ohne mit Bureauarbeiten überladen zu sein, doch alljährlich eine Anzahl hervorragender Dramen in Scene setzen wird. Eines der ersten hiervon soll das Schauspiel „Gelbe Rosen“ von Arthur Müller sein, dem talentvollen Dichter so vieler beliebter Bühnenstücke („Gute Nacht, Hänschen“, „Die Verschwörung der Frauen“), welcher so früh den Faden seiner Schöpfungen mit eigener Hand durchschnitt. Possart war mit Müller in innigster Weise befreundet und hat von ihm die Aufführung dieses letzten Werkes wie eine Art Vermächtniß übernommen, das er in seltener, über den Tod hinausreichender Freundestreue zu erfüllen gedenkt.

Ein in den letzten Wochen am Stadttheater in Berlin durchgeführtes längeres Gastspiel hat durch einen nahezu beispiellosen Erfolg dem Künstlerschaftsdiplome Possart’s ein neues glänzendes Siegel der Anerkennung aufgedrückt; nicht nur, daß das Publicum sich zu den Vorstellungen drängte und sie mit endlosem Beifalle begleitete, auch die Kritik traf in seltener Einstimmigkeit in dem Ausspruche zusammen, daß in Possart ein Schauspieler ersten Ranges aufgetreten war. Das Gastspiel umfaßte eine ansehnliche Reihe von Charakterrollen, worunter sowohl die kleineren, wie Hans Jürge oder der alte Fritz in „Königs Befehl“, wie die größeren eines Franz Moor und Richard des Dritten neben der vollendeten Meisterschaft der individuellen Erscheinung und Durchführung, wie der Eigenthümlichkeit und Schärfe der Auffassung in gleich hohem Grade die seelisch-dichterische Durchdringung und Vertiefung der Gestalten bewundern ließen. Dies war namentlich in der Rolle Nathan’s der Fall, wo Possart nicht, wie andere Künstler, den jüdelnden Geschäftsmann darstellt, der nebenher auch in Lebensklugheit macht, sondern – gewiß nach Lessing’s Intention! – den Weisen, der zufällig zugleich Jude und Kaufherr ist. Die durchschlagendste Wirkung erzielte er jedoch mit der Rolle des Advocaten in dem Schauspiele „Das Fallissement“ von Björnstjerne Björnson, wo er den heimlich bankerotten Kaufmann in einer ergreifenden Scene mit furchtbarem Ernste, aus welchem doch das wärmste Gemüth durchblickt, gewissermaßen zwingt, wahr zu sein und seine Lage offen einzugestehen. Mit dieser Rolle hat Possart – um ein in der Theaterwelt übliches Sprüchlein zu gebrauchen – „den Apfel abgeschossen“; ihr verdankt das Stück unstreitig zum größten Theile seinen in ähnlicher Weise lange nicht dagewesenen Erfolg. Da das Stück vorher in München gegeben und zuerst zur Geltung gebracht wurde, Possart aber die Rolle dort spielte, gebührt ihm der Ruhm, dieselbe – wie man in Frankreich zu sagen pflegt – eigentlich „geschaffen“ zu haben. Das vielbesprochene Stück des norwegischen Dramatikers, das als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf, ist so recht ein gelungener Griff an das Ader- und Nervengewebe der Gegenwart, aber auch Possart’s Advocat Berend ist eine Schöpfung, welche, obwohl auf breiter realistischer Darstellung beruhend, doch an die besten idealen Bestrebungen der früheren Schauspiel-Traditionen anknüpft.

Die Züge des „entlaufenen Lehrlings“, welcher so bald ein Meister geworden, giebt in unserer heutigen Nummer der berühmte Genremaler und Schöpfer der so humoristischen Mönchsbilder, Eduard Grützner in München, in der Scene aus „Richard dem Dritten“ wieder, in welcher der heuchlerische Bösewicht, zwei Bischöfe an der Seite, im Gebet die Bürgerschaft empfängt, welche ihm die Krone anbieten soll.

Grützner hat in diesem Bilde ein kleines Meisterwerk charakterisirender Kunst geliefert. Der ränkevolle und ehrgeizige Throncandidat, in jedem Zoll, in jeder Linie eine infernalische Erscheinung, und ihm zur Seite die beiden Fanatiker der Kirche – das ist ein leben- und charaktervolles Kleeblatt, welches durch die realistische Kraft der geistigen Gestaltung nicht minder packend wirkt, wie durch die künstlerische Feinheit der technischen Durchführung, welche unser Meister ihm hat zu Theil werden lassen.




Der Spiritismus,

eine geistige Verirrung unserer Zeit.
Von Dr. S. Th. Stein.
Der Spiritisten-Congreß in der Hauptstadt Belgiens. – „Umgeist“ und „Geist“. – Die sehenden, die schreibenden und die physischen Medien. – Die verfallene Capelle in der Rue de la Regence. – Eines Excanonicus und eines Exschneidermeisters wundersame Reden. – Die Entlarvung eines Hauptspiritisten durch eine Dame. – Ein ergötzliches Experiment des Verfassers.

Am 25. September des vorigen Jahres, an dem Tage, als der internationale medicinische Congreß seine wichtigen Sitzungen zu Brüssel geschlossen hatte, eröffnete eine andere Wanderversammlung in der lieblichen Hauptstadt von Belgien ihre Verhandlungsperiode. Es war dies ein Congreß von Geistergläubigen, Somnambülen, Magnetiseuren und Gespenstersehern – congrès des spirites – ein Conglomerat moderner Anhänger des alten Cagliostro.

Das Sitzungslocal durfte von Ungläubigen nur auf ganz besondere Einladung betreten werden; dem Schreiber dieser Zeilen war es vergönnt, durch einen Anhänger der Geisterlehre zu jenen interessanten Sitzungen Zutritt zu erhalten. Dieselben versprachen einen tiefen Einblick in eine Classe von Verirrungen und Störungen des menschlichen Geistes, und dieser Umstand bestimmte mich, den bezüglichen Sitzungen als beobachtender Arzt einige Aufmerksamkeit zu widmen.

Der Spiritismus hat in den jüngsten Jahren so auffallend um sich gegriffen, die bei ihm auftretenden Hallucinationserscheinungen mehren sich in einem Maße, daß die Sache wohl der ärztlichen Beobachtung werth erscheint. Eine Heilung dieser, wie aller krankhaften Zustände kann aber nur erfolgen durch das Studium der betreffenden Krankheit, durch das ernste Eingehen auf die bezüglichen Thatsachen und die prüfende Sichtung des vorhandenen Materials. Erklären wir vornweg, ohne uns der angedeuteten Mühe unterzogen zu haben, den Spiritismus für Blödsinn, so werden uns diejenigen Anhänger der genannten Lehre, welche die große Schaar von Betrügern bilden, im Innern zulächeln, die nicht kleine Zahl der Betrogenen und der Gläubigen dagegen wird uns, wie dies schon oft geschehen, den Vorwurf machen, daß wir über eine Sache aburtheilen, welche kennen zu lernen wir uns nicht einmal die Mühe gegeben haben.

Von dieser Voraussetzung geleitet, benutzte ich die Gelegenheit, welche meine damalige Anwesenheit zu Brüssel mir bot, den Spiritismus von Grund aus zu studiren.

Der Spiritismus oder moderne Geisterglaube ist nicht mehr wie zur Zeit des Tischrückens als ein Curiosum zu betrachten, für welches einzelne Individuen eingenommen sind. Nein, es haben sich in den verschiedensten Städten von Frankreich, England und Nordamerika diese Individuen zu vollständigen Gemeinden zusammengeschaart, welche unter der Führung eifriger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_016.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2020)