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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Er setzte allem dem Infamen die Verachtungsruhe eines Braven entgegen, die einzige Waffe, welche einem Gentleman dem Mob gegenüber ziemt.

Derweil geschah in einer der an das Elysée Montmartre stoßenden Straßen zur Vervollständigung des Opferfestes Folgendes. Ein wüster Knäuel von Bürgerwehrleuten, Soldaten, Weibern und Kindern verhandelt die Ereignisse des Tages und erschöpft sich in Verwünschungen des Generals Lecomte. „Er hat seine Soldaten zum feuern auf das Volk kommandirt; dreimal hat er Feuer kommandirt, der Lumpenhund,“ geifert eine Megäre von Marketenderin. „Er hat rechtgethan,“ sagt nachdrucksam ein hochgewachsener, weißbärtiger Greis von soldatischer Haltung, aber in schwarzem Bürgerkleid. Die Menge beantwortet diese Bemerkung mit einem Hagel von Flüchen und Verwünschungen. Aber uneingeschüchtert sagt der alte Herr noch lauter: „Ja, der General that nur seine Schuldigkeit. Ihm war von seinen Vorgesetzten befohlen, die Kanonen zu holen und die Rottirungen zu zerstreuen, und er mußte diesen Befehl vollziehen.“ Die Megäre, vielleicht die Enkeltochter einer der „Guillotinefurien“ von 1793, springt mit einem Satze vor den greisen Wahrheitsager hin, sieht ihn scharf an, hält ihm die geballte Faust unter die Nase, schnaubt ein wüthendes „Ha!“ hervor und schreit dann, rückwärts gewandt, der Horde zu: „Das ist Clément Thomas.“

Ein Todesurtheil. Denn seit lange schwärender Pöbelhaß ruhte auf dem General Clément Thomas. Er hatte ja zweimal, im Jahre 1848 und dann wieder im Winter von 1870–71, das Oberkommando über die Pariser Nationalgarde gehabt, und beidemale hatte er ehrlich und energisch seine Schuldigkeit gethan. Auch gegen den Pöbel gethan. Jetzt war der Pöbel obenauf und pöbelte darauf los, wie von ihm zu erwarten.

Wahrscheinlich wäre der furchtlose Greis auf der Stelle in Stücke zerrissen worden, so nicht ein Blusenmann vorsprang und dem General zudonnerte: „Ha, du wagst es, den Volksmörder Lecomte zu vertheidigen? Wart’, wir wollen dich ihm beigesellen. Das wird ein hübsches Paar abgeben.“ Allseitige Zustimmung zu diesem sinnreichen Vorschlag. Die Rotte zwingt den Greis in ihre Mitte und schleppt ihn unter fortwährenden Lästerungen und Drohungen fort zu dem kleinen, geheimnißvollen Hause Nr. 6 in der Rue des Rosiers. Kurz zuvor war der General Lecomte dort angelangt. Clément Thomas wird ihm beigesellt zu einem furchtbaren Todesgang.

Was für Scenen spielten sich jetzo, zwischen 4 und 5 Uhr, in diesem Hause ab? Man weiß es nur beiläufig, nicht genau; denn alles war ja Trubel und Tumult, Unsinn und Wuth. Waren Mitglieder vom „Centralkomité“ anwesend? Es scheint nicht, denn es wird berichtet, das Komité habe zu dieser Stunde in der Mairie des 18. Arrondissement Sitzung gehalten. Von anderer Seite wird freilich gemeldet, allerdings seien Mitglieder des Komité in der Rue des Rosiers anwesend gewesen und sie hätten gewünscht, daß man das Leben der beiden Generale schonte und dieselben als Geiseln in Haft behielte. Aber auch angenommen, dieser Wunsch sei vorhanden gewesen und ausgesprochen worden, so fand er jedenfalls keine Erfüllung. Die unselige Legende der Revolution that wieder einmal ihre Wirkung, die Nachäfferei des schöngefärbten Schreckensjahres 1793 mit seiner durch Lamartine „vergoldeten“ Guillotine verlangte nach einer Gerichtsparodie, wie solche bei Gelegenheit der Septembermorde von 1792 in den Gefängnissen von Paris aufgeführt worden waren. Ein „Kriegsgericht“ sollte gebildet werden, um die beiden Generale davor zu stellen. Wer von den Anwesenden noch eine Fiber von Ehre und Scham im Leibe hatte, weigerte sich in dem Mordgerichte zu sitzen. Aber draußen heulte das Pack sein „A mort! A mort!“ mit steigender Wildheit, und so that ihm drinnen eine Dreck- und Spottgeburt von Tribunal den Willen. Ein Kerl Namens Verdaguer, notorischer Dieb zwar, aber dermalen Kommandant des 91. Bataillons, und der „Kapitän“ Kerdanski, ein polnischer Revolutionsreisender, saßen mit auf der Richterbank. Die traurige Posse währte jedoch, so kurz sie war, der draußen heulenden Meute zu lange. Die souveräne Pöbelhefe, vermischt mit Franctireurs, Liniensoldaten, garibaldischen Rothhemden, strudelt hinein in den Saal und schwemmt die beiden Generale weg, die Treppe hinab und in den kleinen Garten.

Hier spielt sich die Mordscene ab.

Ein Kerl in der Uniform eines Bürgerwehrofficiers packt Clément Thomas, hält ihm einen Revolver an die Kehle und brüllt ihn an: „Gestehe, daß du die Republik verrathen hast!“

Der greise Republikaner gibt nur ein Achselzucken der Verachtung zur Antwort.

„Zum Tode mit ihm! Zum Tode!“ heult die dicht am Gartenzaun gestaute Menge.

Er wird gegen die Hintermauer des Gartens gestoßen. Dort richtet er sich zur ganzen Höhe seines Wuchses auf, kreuzt die Arme und erwartet die mörderischen Kugeln.

Ein Augenzeuge hat nachmals sich des Umstandes erinnert, daß der frischausgeschlagene Blüthenzweig eines der Pfirsichbäume, welche an der Mauer standen, über das Haupt des Generals emporgeragt habe wie zur Bekränzung des Opfers.

Eine Rotte von uniformirten und nichtuniformirten Halunken entladet blindlings die Gewehre auf den verlorenen Mann. Er wird nicht getroffen, nur seinen Hut durchschlägt eine Kugel. Er nimmt ihn ab und entlastet seine Seele mittels des Zornschrei’s: „Feiglinge und Schurken seid ihr allesammt.“ Da kracht wieder ein Schuß. Getroffen stürzt der Gemordete vornüber auf Brust und Antlitz, und nun zerfetzen noch mehr als vierzig Kugeln seinen Körper.

„Jetzt kommst du dran,“ brüllt man dem General Lecomte zu.

Gefaßt schreitet der also Gerufene der Mauer zu. Ein fahnenflüchtiger Soldat springt vor, hält dem General die Faust vor’s Gesicht und schreit: „Du hast mich mal für dreißig Tage in Arrest geschickt. Dafür sollst du von mir den ersten Schuß kriegen.“

Lecomte geht vorwärts, steigt über den Leichnam seines Schicksalsgenossen hinweg und stellt sich an die Mauer. „Feu!“ Diesmal ist die Salve besser gezielt und, in’s Herz getroffen, stürzt der General rückwärts zu Boden.

„Vive la république!“ brüllt die grausame Menge, ganz wie ihre Großväter und Großmütter im Jahre 1793 gebrüllt hätten, so das „rasoir national“ auf dem Revolutionsplatze sein Tagewerk gethan, d. h. den dreißigsten, vierzigsten, fünfzigsten, sechzigsten Kopf abgeschnitten hatte. Der uralte Glaube, daß alles große Neue die Bluttaufe empfangen müsse, will nicht aus dem Volke hinaus. Er ist auch wohlbegründet, wie die Weltgeschichte darthut. Aber sie thut auch dar, daß der Pöbel allzeit und überall unter dem Blute, womit die Vorschrittsideen getauft und befruchtet werden müssen, nicht sein eigenes, sondern das anderer Leute verstanden hat.

Nach vollbrachtem Morden erschien der Herr Maire des 18. Arrondissement, der Citoyen Clemenceau, mit seiner Amtsschärpe umgürtet, auf der Blutbühne. Früher zu kommen sei ihm nicht möglich gewesen, sagte er. Er sei anderwärts zu sehr beschäftigt gewesen. Auch das „Centralkomité“ war anderwärts zu sehr beschäftigt, als daß es sich um so eine Bagatelle wie die Ermordung von zwei unpopulären Generalen hätte kümmern können. Ebenso war auch der Kommandant der Bürgerwehr von Montmartre, der Bürger Bergeret mit seinem rothbefederten Generalshute, anderwärts beschäftigt gewesen zur Stunde, als der Gräuel in der Rue des Rosiers geschah, nämlich im Hôtel de Ville, um bei der Theilung der Beute und der Vertheilung der Machtrollen nicht zu kurz zu kommen.

Ja, im Hôtel de Ville wurde am Abende des 18. März das Hallali geblasen. Dorthin hatte sich das „Centralkomité“ übergesiedelt, und seine Mitglieder, die noch heute Morgen nichts gewesen als geheime Verschwörer, waren jetzt öffentlich die Herren von Paris und dehnten mit Behagen die proletarischen Glieder auf der damastenen und sammetnen Polsterung der Prachtmöbel, womit das Empire die Säle des Stadthauses ausgestattet hatte.

Ein Zug von wahrhaft rabelais’schem Kynismus geht durch die ganze Geschichte des rothen Quartals von 1871. Auch bei dem Einzuge des Centralkomité in’s Hôtel de Ville kam derselbe zum Vorscheine. Frohüberrascht, in das alte Hauptquartier der Revolution ohne irgendeinen Widerstand eingezogen zu sein, soll der Bürger Assi, welcher der neuen Stadthausregierung vorsaß, ausgerufen haben: „Wir brauchten die Thore des Hôtel de Ville

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_014.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)