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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

von Westen und Süden her ausreichend besetzt. Eine Brigade, zusammengesetzt aus dem Infanterieregiment Nr. 88, einem Bataillon Chasseurs de Vincennes und etlichen Schwadronen Gensd’armen, steigt unter dem Befehle des Generals Lecomte die steilen engen Gassen zum Thurme Solferino auf dem Montmartre hinauf. Der General Susbielle erreicht und besetzt zur gleichen Zeit die Place Pigalle mit einer Schwadron berittener Chasseurs und einer Kompagnie Gensd’armen. Beide Generale finden weder auf ihrem Wege noch droben Widerstand. Es war eine Ueberraschung in aller Form und die schlechtbewachten Geschütze befanden sich demnach alsbald in der Gewalt der Truppen. Es handelte sich nur noch um das Fortschaffen der Kanonen. Aber gerade damit haperte es. Weder war die nöthige Anzahl von Pferden zur Stelle, noch konnte sie zeitig genug herbeigeschafft werden. Ueberhaupt klippte und klappte nichts, und vom letzten Trainsoldaten an bis hinauf zum ersten General des Tages wurde heute kläglich offenbar, daß die auf Frankreich lastende Wirrsäligkeit der Anarchie auch in den Ueberresten der Armee grassirte.

Derweil hatten Frühschoppentrinker von den Weinstuben aus, sowie Frühstücksbrote holende Köchinnen in den Gassen vom Montmartre und in den benachbarten Quartieren das Lärmzeichen gegeben. Schaaren von johlenden Jungen, fistulirenden Weibern und fulminirenden Bürgerwehrmännern begannen unter dem Rollen des Generalmarsches und dem Heulen der Sturmglocken herbeizuwimmeln und heranzuwuseln. Gruppen von zornigen Patrioten und zornigeren Patriotinnen schossen wie aus dem Boden auf, und von Haufen zu Haufen ging das wilde Geschrei: „Verrath! Verrath! Man will uns unsere Kanonen stehlen. Der Erzschurke Thiers will uns wehrlos machen und dann zusammenkartätschen. Nieder mit den Kanonenräubern!“

Der „Erzschurke“ Thiers! Das war der dem Manne, welcher die Befreiung seines Landes von der fremden Invasion und den Wiederaufbau des französischen Staatswesens dermalen zur Arbeit seiner Tage und zur Sorge seiner Nächte machte, dargebrachte Dank. Ein richtiger Volksdank, wie er überall im Weltgeschichtebuch steht. Nur Gaukler und Gauner sind der Gunst und des Beifalls der niedrigen wie der vornehmen Menge gewiß. Die Kunst der Popularität besteht darin, noch gemeiner zu sein als der obere und der untere Pöbel, und wer Menschen wie Völkern imponiren will, der muß damit anfangen, sie zu mißachten. Die Nerone, die Tamerlane, die Iwane, die Napoleone werden in der mit bebendem Erstaunen zu ihnen aufblickenden Erinnerung der Nachwelt zu Halb- oder Ganzgöttern. Warum? Weil sie der niederträchtig vor ihnen im Staube liegenden Menschheit den Eisenfuß auf den Nacken drücken. „Kusch!“ Dem Sokrates den Schierlingsbecher und dem Propheten von Nazaret den Kreuzgalgen, aber dem Sulla die Diktatur und dem Scheusal von Capri die Weltherrschaft und die Vergötterung! Manon Roland auf’s Schaffot, Marat in’s Pantheon! Dem Schiller einen unbezahlten Fichtenbrettersarg, dem glücklichen Börsenschwindler und Millionendieb ein marmoren Mausoleum! Immer und ewig dieselbe wüste Travestie von des Aristoteles Hymnus auf die

„Tugend, der Sterblichen mühvolles Ziel,
Herrlichster Kampfpreis irdischen Trachtens,
Jungfrau von weltüberwindender Macht!“

Es war kein Gefecht, sondern nur ein wirrsäliges Durcheinander von Arbeiterblusen, Weiberjupons, rothen Soldatenhosen und blauen Bürgerwehrröcken, von kecker Zumuthung auf der einen und jämmerlicher Nachgiebigkeit auf der andern Seite, was die Sache entschied. Die Truppen wollten sich nicht schlagen. Als Nationalgardenbanden aus Montmartre, La Villette und Batignolles durch die Rue Müller gegen die vom General Lecomte besetzte Stellung heranrückten, ging alsbald das „Fraternisiren“ los, das heißt die Soldaten, voran das 88. Linienregiment, entschlugen sich aller Mannszucht, kehrten die Gewehrkolben in die Höhe, lösten ihre Reihen, mischten sich mit dem „Volke“, ließen sich von Dirnen in die zahlreichen Kneipen ziehen und sangen in rasch erlangter Weinbegeisterung mit allen den Patrioten und Patriotinnen um die Wette die Marseillaise, welche der arme Rouget de l’Isle sicherlich ungedichtet gelassen hätte, so er vorausgehört, von was für Schmutzmäulern sie Anno 1793 und Anno 1871 hergebrüllt werden würde. Der unglückliche General Lecomte, dessen Befehl, auf den andringenden Insurgentenhaufen zu feuern, nur das eben gemeldete Resultat gehabt, wurde mitsammt seinem Stabe und einer Anzahl fest und treu gebliebener Gensdarmen gefangen genommen und, umheult von geiferndem und zeterndem Gesindel, zunächst nach Chateau Rouge in der Rue Clignancourt geschleppt.

Aehnlich klägliches Ende nahm das Unternehmen der Regierung auf der Place Pigalle und auf der Butte Chaumont in Belleville. Mit Ausnahme der Gensdarmerie, welche doch bei weitem nicht stark genug war, den Aufruhr zu bändigen, ließen sich die Truppen überall bereitwillig finden, mit dem Pöbel zu „fraternisiren“, d. h. Gesetz, Ehre und Pflichtgefühl mit Füßen zu treten. Der General Vinoy, welcher die also schmählich vergeckte Expedition befehligte, sah sich, um seine noch unverführten Regimenter vor Ansteckung zu bewahren, genöthigt, gegen Mittag den Rückzugsbefehl zu geben. Demzufolge räumten die Regierung und ihre bewaffnete Macht die ganze am rechten Seineufer gelegene Stadt, und auch die Räumung der Quartiere des linken Ufers ließ nicht lange auf sich warten. Herr Thiers mochte sich erinnern, daß er am Morgen des 24. Februars von 1848 dem stürzenden Louis Philipp gerathen hatte, alle Truppen zusammenzunehmen, um sich mit denselben aus der aufrührerischen Hauptstadt nach St. Cloud zurückzuziehen, um dann wohl vorbereitet von dort aus angriffsweise gegen die Revolution vorzugehen. Ueberdies blieb auch für die Regierung, nachdem zwei Aufrufe, welche sie im Laufe des Tages an die Nationalgarde richtete, um diese gegen eine „Handvoll Verblendeter, welche sich über das Gesetz stellten und geheimen Oberen gehorchten, zur Vertheidigung des Vaterlandes und der Republik“ unter die Waffen und zum Handeln zu bringen, vollständig erfolglos sich erwiesen hatten, kaum etwas anderes übrig als der Rückzug nach Versailles. Die Truppen zum „Fraternisiren“ geneigt, die Bürgerwehr, auch die der nicht insurgirten Quartiere, dem siegreichen Aufstand mit stumpfer Ergebung zusehend, – unter diesen Umständen mußte der Gescheidere vorderhand nachgeben, d. h. einpacken und gehen.

Während aber die Regierung zurückwich, ging das aus seiner Verborgenheit aufgetauchte „Centralkomité“ vorwärts, d. h. es ließ aus seinem Sitzungslokal Nr. 6 in der Rue des Rosiers auf Montmartre seine Vorwärtsbefehle ergehen und diese wurden pünktlich vollzogen. Nachdem im Laufe des Vormittags die Quartiere Montmartre, Velleville und La Villette mittels praktisch und emsig getriebener Barrikadologie zu wohlverschanzten, kanonenbekränzten Hauptstützpunkten der Insurrektion gemacht waren, wurde des Nachmittags angriffsweise gegen das Centrum von Paris vorgegangen. Die Eroberung war leicht, denn es gab keinen Widerstand. Als der Abend zu dämmern begann, befand sich so ziemlich das ganze rechtsuferige Paris in der Gewalt der Rothen, nachdem sie schon gegen 4 Uhr neben anderen wichtigen Punkten und Gebäuden auch des auf dem Vendomeplatze gelegenen Generalstabspalastes sich bemächtigt hatten. Dieses Haus und dieser Platz, sie sind denn das militärische Hauptquartier des Aufstandes geworden.

Ein so großer und rascher Erfolg war doch wohl einer Siegesfeier werth. Wie wär’ es, wenn wir diesen 18. Märztag roth anstrichen im ohne Zweifel wieder einzuführenden Kalender von 1793? „Blut ist ein ganz besonderer Saft“, und „la sainte canaille“ will ihr Amusement haben. Der christliche Herrgott zwar ist abgethan in unserem Glauben oder Nichtglauben, aber mit dem alten grimmigen Baal-Moloch ist es etwas anderes, und an Opfern fehlt es ja nicht.

In Wahrheit, es fehlte nicht an Opfern und die Opferung stand nicht lange aus.

Der gefangene General Lecomte war, wie oben gemeldet wurde, zunächst in’s Chateau Rouge gebracht und daselbst durch das 169. Bataillon der Nationalgarde bewacht worden. Wuthschnaubendes Gesindel schrie nach seinem Blut. Um 3 Uhr Nachmittags machte dieses Geschrei den beiden Kapitänen, welche das Bataillon befehligten, so angst und bange, daß sie, der Verantwortlichkeit sich zu entschlagen, beschlossen, den Gefangenen in die Rue des Rosiers hinauftransportiren zu lassen. Auf dem Wege dahin war das Leben des Generals wiederholt in Gefahr. Droben wurde er von einem Haufen seiner eigenen, verrätherischen Soldaten mit scheusäligen Schimpfreden empfangen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_012.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)