Seite:Die Gartenlaube (1876) 011.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

vorwärts – Gott sei mir gnädig! – da, Ritz und Ratz riß etwas an mir entzwei und – pang – pang – wälzend, donnernd und stampfend war die Maschine über mir hinweg. Der Boden zitterte nur noch nach. Vom freien Himmel herab stürzte das Schneewehen wieder auf mich herab.

Wie ich auf die Beine gekommen, weiß ich nicht. Ich stand da und schüttelte mich und sah die rothen Lichter der Maschine in der Curve verschwinden, die mir aussahen, wie die Augen des leibhaftigen Todes.

Dann fühlte ich mich an, was mir denn die Maschine vom Leibe gerissen habe, und seht, da fehlten nur die ordnungsmäßigen Knöpfe hinten am Dienstmantel. Ich ging zum nächsten Weichenwärter, ließ mir eine Laterne geben und suchte die Knöpfe im Schnee. Als wir aber zu Hause um die Bowle saßen, in die ich bald zu viel Arrak, bald zu viel Zucker that, daß die Louise mich verwundert fragte: ‚Mann, was hast Du denn heut? Du zitterst ja und sprichst gar nicht,‘ da kam mir erst Verstand und Sprache wieder, und ich zeigte Louise die Knöpfe und erzählte ihr die Geschichte und sagte, die Knöpfe zwischen den Fingern haltend: ‚Siehst Du, um so viel nur war Dein Männchen heute Abend vom schlechten Tode entfernt.‘ Seht, hier habe ich die Knöpfe und werde sie tragen, bis der Tod einmal wirklich kommt.“

Der alte Führer öffnete den Rock und zog zwei Knöpfe mit dem königlichen Wappen hervor, die er an einer Schnur auf seiner rauhen Brust trug.

„Und nun wißt Ihr auch, warum ich vorhin die arme Creatur im Aschkasten bedauerte. Ich habe Euch die Geschichte erzählt, weil nun einmal die Rede darauf kam, sonst spreche ich nicht gern davon, weil Todesangst dabei war, und an die erinnert sich kein Christenmensch gern. Laßt Euch dadurch die Courage nicht schwächen! Ihr braucht sie im neuen, wie im alten Jahre. Hört! es schlägt gerade Zwölf. Prosit Kinder, Prosit und Wohlfahrt noch auf hunderttausend Locomotivmeilen!“

Wien, 22. November 1875




Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Das rothe Quartal.


(März–Mai 1871.)


Von Johannes Scherr.


1. Mordpräludium.


Man schrieb den 18. März 1871, und der souveräne Unverstand flackerte und qualmte wieder einmal vollkräftig in der „Weltleuchte“ Paris.

Schon am 31. Oktober von 1870, dann am 22. Januar von 1871 hatte das Schwefelfeuer stark geglommen und geglostet, aber es hatte an der Apathie der Pariser zu wenig Nahrung gefunden und konnte daher durch die schwachen Hände der „Défense nationale“ sanft niedergedrückt werden.

Heute dagegen war, wie schon gesagt, der souveräne Unverstand obenauf. Hüben und drüben. Denn der Frevelhaftigkeit der Insurrektion entsprach vollständig die Schwäche der Regierung. Freilich ist es billig, anzuerkennen, daß die letztere, das heißt die Diktatur von Monsieur Thiers, in der denkbar schwierigsten Lage sich befand. Sie fand sich ja den deutschen Siegern, der royalistisch-klerikalen Nationalversammlung und der socialistischen Emeute zugleich gegenübergestellt. Sie hatte die Mehrheit der Versailler Versammlung von rückwärtigen Ueberstürzungen abzuhalten; sie hatte die Frankreich auferlegten Friedensbedingungen zu erfüllen, das fremde Besatzungsheer zu verköstigen, die Lösungsmilliarden herbeizuschaffen, die Armee ganz neu zu organisiren, während die hunderttausende von französischen Soldaten noch Kriegsgefangene in Deutschland waren, und mit all dieser ungeheuren Arbeit beladen sollte sie auch noch der rothen Revolte die Stirne bieten.

Trotzdem trifft die Regierung der gerechte Vorwurf, daß sie weit mehr hätte thun können, als sie gethan hat, um den 18. März zu verhindern, und daß sie, was sie that, weit besser hätte thun können. Sie mußte ja wissen und sie wußte auch zweifellos, welche Elemente der Ueberspanntheit, des Utopismus, des Wahnsinns, der Begehrlichkeit und der Zerstörungswuth die bewaffnete sogenannte Nationalgarde der Hauptstadt in sich barg. Des Unheils Anfang war allerdings die im Waffenstillstandsvertrag auf Andrängen Favre’s stipulirte Fortdauer der bürgerwehrlichen Bewaffnung, aber die Regierung von Thiers ließ den Schaden fortschwären, indem sie es zuließ, daß die Wehrmänner der socialistisch-internationalen Verschwörung hunderte von Geschützen unter dem lächerlichen Vorgeben, dieselben vor der Wegnahme durch die am 1. März ihren Triumpheinzug in Paris haltenden Deutschen zu bewahren, auf dem Montmartre, auf der Butte Chaumont und anderwärts zusammenbrachten und daselbst als ein augenscheinliches Aufstandsmittel bewachten. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß es dem glühend patriotischen Greise, welcher von Versailles aus Frankreich regierte, als unmöglich, ja als undenkbar vorkam, Franzosen könnten angesichts der in den Ost- und Nordforts von Paris stehenden und den ganzen Norden und Osten Frankreichs noch unter der Gewalt ihrer Waffen haltenden deutschen Sieger die Fahne des Bürgerkrieges erheben. Allein ein so welterfahrener und menschenkundiger Mann wie Thiers mußte auch diese furchtbare Möglichkeit zugeben, so er erwog, daß in der Hauptstadt tausende und wieder tausende von Leuten lungerten und lauerten, welchen der Glaube an die höllische Botschaft, daß die Arbeit ein Fluch und der Genuß, der bestiale Sinnengenuß, das einzige Heil sei, alles, was heilig unter Menschen, alles, was die Gesellschaft bindet und zusammenhält, Vaterlandsliebe, Nationalehrgefühl und Pflichtbewußtsein, längst zu einem Spottlachen gemacht hatte. Es war ja das Geheimniß der Komödie, daß die Nationalgarden der revolutionären Quartiere einem „Centralcomité“ gehorchten, welches ungefähr so zustandegekommen, wie ihrer Zeit in der Nacht vom 9. auf den 10. August von 1792 die revolutionäre Commune von Paris. Man wußte, daß die schon im letzten Winter ausgegebene Losung „Errichtung einer Commune!“ in den Massen zum gehätschelten Afterglauben geworden war. Man wußte, daß der alte Erzverschwörer Blanqui, welcher zur Zeit Louis Philipps seine Mitverschworenen an die Polizei verrathen und überliefert hatte, trotzdem aber oder gerade darum beim Gesindel seine Geltung und seinen Einfluß behalten hatte, in Paris alles für den Ausbruch einer Commune-Insurrektion vorbereitet hatte und dann nach Lyon abgereist war, um dergleichen Insurrektionen auch in den Städten von Süd- und Ostfrankreich zu organisiren. Man wußte endlich, daß seit Wochen Katilinarier aller Länder, alle die kosmopolitischen oder, besser gesagt, kosmopolakischen Abenteurer, von denen geschrieben steht: „La révolution c’est notre carrière“ in der Hauptstadt zusammenströmten, Geiern gleich, die ein Aas witterten. Ja, man wußte das alles in Versailles, und dennoch wähnte man, die offenkundige Gefahr nicht beachten oder gar verachten zu dürfen. Und als man dann nach langem sträflichem Zaudern zum Handeln und zum Einschreiten sich entschloß, als man zum Zurückfordern und Zurückholen der auf dem verbarrikadirten Montmartre aufrührerisch in Batterie gebrachten Kanonen und Mitrailleusen vorschritt, da war das Unternehmen so schluderig geplant und wurde dasselbe so lässig und faul ausgeführt, daß es den Verschwörern nur die seit Wochen erlauerte Gelegenheit zum Losschlagen und damit zur Ergatterung der Herrschaft über Paris gab.

Die militärischen Verfügungen waren unzulänglich getroffen und wurden zusammenhangslos in’s Werk gesetzt. Die dazu verwendete Truppenzahl war wohl ausreichend – die Besatzung von Paris war ja auf 30,000 Mann gebracht worden – aber gerade auf den Punkt der Entscheidung hatte man ein durchaus unzuverlässiges Linienregiment hingeschickt. Anfangs ging alles ganz glatt. In den ersten Stunden vom 18. März setzten sich die Kolonnen der Truppen gegen den Montmartre, gegen Belleville und die Butte Chaumont in Marsch. Im ersten Morgengrauen waren alle Zugänge zu diesen Höhequartieren

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_011.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)