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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

so teufelsmäßig wagehalsig sein bei dem Wetter, wo man nichts sehe und höre und überdies ausrutschen könne. Er hatte mich aber ausgelacht und mich angeschrieen: ‚Kümmert Euch um Euren Dienst, Zimmermann, und nicht um mich! Wir müssen fertig werden vor Mitternacht – vorwärts, vorwärts!‘ Und weg war er gewesen; ich hatte ihm von Herzen: ‚Hol’ Dich der Teufel!‘ nachgerufen – und das soll ich mein Lebtag nicht vergessen, und auf dem Sterbebette noch bereuen.“ – Hier machte der alte Locomotivführer eine Pause, trocknete sich die Stirn, that einen Zug aus dem Punschglase und fuhr dann fort:

„Ich hörte ihn noch ‚los‘ commandiren, drüben bei meinem Collegen, und die Wagenketten klirren und dann einen Ton – nun, wie denn gleich? Habt Ihr einmal einen Metzger mit einem Beile einen dicken Knochen durchhauen gehört? – und einen dumpfen Schrei, und dann nur wieder das Kling und Klang der zusammenstoßenden Puffer; mir fuhr’s kalt durch die Glieder; da bekam ich das Signal zum Vorrücken, und da war kein Zaudern. Vorwärts! Vorwärts! Ich war gleich weit weg von der Stelle, am anderen Ende des Bahnhofs, da konnte Niemand wissen, was geschehen war.

Aber ich that meinen Dienst nur noch wie im Traume, und als wir eine halbe Stunde darauf fertig waren, und ich wieder in die Remise fuhr, sagte nur der Vorstand: ‚Wißt Ihr schon, Zimmermann? Der Schirrmeistergehülfe Porges ist todtgefahren worden, todtgedrückt zwischen den Puffern.‘ Ich habe nicht viel gefragt – mir war’s gruslig zu Muthe, und ich weiß nicht, wie ich die Maschine besorgt habe und auf den Heimweg gekommen bin. Als ich am Perron vorbeikam, sah ich einen Trupp mit Laternen dort stehen, und etwas mit einem Mantel Zugedecktes auf dem Schnee liegen. Ich hatte dabei nichts zu suchen; es schüttelte mich, und ich kann Euch sagen, Jungen, ich hätte wer weiß was darum gegeben, wenn ich ihn nicht eine halbe Stunde vorher zum Teufel gewünscht hätte. Ich gab mir schwere Mühe, mir das aus dem Kopfe zu schlagen, es war ja nicht so schlimm gemeint gewesen, eine Redensart, wie sie unter uns bösen, groben Mäulern gang und gäbe war. Unter Euch jungen Kerls ist’s noch schlimmer, und es würde Euch curiren, wenn Ihr das Wurmen damals da drinnen in mir gefühlt hättet. Na, endlich kam ich dahin, mir die helle, warme Stube daheim, mit den Filzpantoffeln und der Louise und dem kleinen Jungen und dem Kater und dem singenden Wasserkessel auf dem Ofen und der Arakflasche und Zuckerbüchse und den Citronen auf dem Tische vorzustellen, so wurde es denn allgemach helle in mir.

Daß ich nun, bei dem Hin- und Hersinniren nicht viel auf Wetter, Wind und Weg und Steg geachtet hatte, könnt Ihr denken, und ich merkte nur eben, daß es noch wirbelte und heulte in der Luft, als ich in den Einschnitt bei der alten Oelmühle eingetreten war, durch den hindurch man die Fenster meines Hauses gesehen hätte, wenn man überhaupt zehn Schritte weit hätte schauen können. Ich ging im rechten von den beiden Gleisen im Einschnitte fort, weil es für meinen Weg schneefrei war, und ich von ihm aus das Haus zuerst sehen konnte.

Und zwar ging ich ganz ruhig, denn ich kam vom Bahnhofe, und Ihr wißt, es ist das Einfahrtgleis, also konnte mir kein Zug von rückwärts nachkommen und von vorn war keiner zu erwarten. Auch hätte ich ihn kommen hören müssen.

Als ich nun mitten in dem Einschnitte war, der, wie Euch bekannt ist, in der Curve liegt und in dem man an jenem Abende nicht eine Wagenlänge weit sehen konnte, hör’ ich hinter mir pfeifen und gleich darauf das Klipp und Klapp der Räder auf den Schienenstößen eines langsam herankommenden Zuges. Ich hörte auch, daß die Maschine den Zug vor sich herschob, denn der Maschinenschlag war viel weiter hinten, als das Räderrollen. Ich dachte: Aha! Das ist der Reservezug von ungefähr zwanzig Achsen, der vorhin auf dem Gleise drüben stand und den sie nach dem Güterbahnhofe hinüberdrücken. Alles das ging mir aber nur ganz dunkel durch den Sinn, wie man immer mechanisch an den Dienst denkt, auch wenn man Kopf und Herz von anderen Dingen voll hat. Ich sage: ganz dunkel; im Grunde ging’s mich ja nichts an, denn der Zug mußte gleich auf dem linken Gleise an mir vorbeikommen. Als aber das Ping und Pang der Räder auf dem hartgefrorenen Gleise ganz nahe heran gekommen war und ich schon hörte, wie die Nothkette an dem vordersten Packwagen hin- und herklirrte, und sah, wie das Licht seiner Signallaterne neben mir auf dem Schnee hinzugleiten begann, drehte ich den Kopf zur Seite, um den Kerls drüben auf dem Zuge ein ‚Prosit Neujahr!‘ zuzurufen –

Aber da war kein Zug auf dem Gleise drüben – und in demselben Augenblicke nun – da bekomme ich einen gewaltigen Stoß in den Rücken. Feuer sprühte mir aus den Augen – puff, liege ich flach im Gleise, auf denn Gesicht, und pung – pung – beginnen die Wagen über mich wegzugehen.“

Der alte Locomotivführer machte hier wieder eine Pause. Es war todtenstill im Führerzimmer; weitgeöffneten Auges, vorgebeugt, bleich, umgaben die kräftigen Gesichter der jungen Führer den Tisch. – Er füllte die Gläser wieder, drückte den Tabak in die Pfeife fest und fuhr fort:

„Seht, Kinder, wenn wir so hier um den Tisch sitzen, oder auf der Maschine stehen, oder selbst auch, wenn wir, wie heute der arme Hennig, das Malheur eines Examens durchmachen, da kommen die Gedanken aus unseren dicken Schädeln immer einer nach dem andern – langsam ‚orndlich‘ und instructionsmäßig gegangen, man kann jeden einzelnen anschauen, jedem guten Tag und guten Weg wünschen; ja, die Herren Maschinenmeister sagen sogar manchmal, wir Führer dächten langsamer als andere Menschenkinder, weil alles Schnelle aus uns heraus, in unsere Maschinen gefahren sei. – Aber, Kinder, in dem Augenblicke, der zwischen dem Stoße und meinem Flach-auf-der-Erde-liegen inne war, habe ich so viel gedacht, wie sonst zwischen Ostern und Pfingsten nicht.

Zuerst an Daheim, die warme Stube und Alles darin und an das Neujahrsgeläut und den Neujahrskirchgang morgen – na, davon sprechen wir nicht –, dann an den Schirrmeistergehülfen, der im Bahnhof unter dem Mantel auf dem Schnee lag, und dann calculirte ich so deutlich, als hätte ich sein Rangiren zu commandiren, über den Zug, der über mich weg ging. Warum kam er denn auf dem unrechten, dem Gleise, in dem ich gegangen war, dem Einfahrtsgleise herauswärts? Und da hatte ich es gleich, was ich vorhin bei meinem Grübeln vergessen hatte. Das Ausfahrtsgleis hatte ich ja am Mittag noch tief im Schnee verweht gesehen, und deswegen fuhren sie auf dem Einfahrtsgleise hinaus. Dann sah ich den Zug deutlich stehen; es konnten nicht mehr als zwanzig bis zweiundzwanzig Achsen Güterwagen sein, alles unsere eigenen Wagen; die gingen alle hoch über den Schienen; die thaten mir nichts – ich lag flach genug zwischen den Gleisen. Aber die Maschinen, die Aschkasten der Maschinen! Ich kannte die drei Maschinen, die noch auf der Station im Feuer standen, wie meine Tabaksdose. Der ‚Wittekind‘ ginge harmlos über mich weg, auch wenn ich beleibter gewesen wäre, als ich damals war; der ‚Hermann‘ konnte mir allenfalls auch noch gnädig sein, wenn er wenig Wasser und Feuer im Kessel hatte, und die Kiesfüllung, auf der ich lag, nicht dick war, aber unter dem ‚Sirius‘, einem von den neuen niedrigen Elephanten, war ich ein todter Mann. Ja, ein gleich Todter, das wäre nicht das Schlimmste gewesen, aber ein langsam in Stücke zerrissener und zerdrückter Mann. Welche Maschine war es nun, die da kam?

Alles das, seht Ihr Kinder, hatte ich eigentlich zwischen Stoß und Liegen gedacht, aber als ich einmal lag, hörte alles Calculiren auf und nur ganz instinctmäßig streckte ich mich und zog den Athem an und machte mich dünn wie der Marder, der aus der Falle will, und zählte die Achsen, die über mich weg gingen. Da sprach deutlich jedes Ping und Pang Silben aus, die lauteten: Ein schlech-ter Tod – ein schlech-ter Tod. Und jetzt greift mich etwas Schweres an, nein, es ist noch nichts; es gleitet und streift nur klirrend der Länge nach über mich hin, und schlägt mich kalt in’s Genick, es ist eine herabhängende Zugkette. Aber jetzt kommt’s, der Boden beginnt, leise erst, dann stärker und stärker unter mir zu zittern, ganz langsam kommt’s, dann sah ich von der Seite, obwohl ich den Kopf in ein Taggerinne drückte, daß die Schiene und der Schnee und die rollenden Räderschatten über mir immer heller und heller roth beleuchtet wurden; das war das Maschinenfeuer, das aus dem Aschekasten schien. – Jetzt fühlte ich es heiß werden, am bloßen Kopfe und Genick. Die Schwellen drückten sich nieder; das Gleis dröhnte und bog sich; der Boden bebte gewaltig unter mir, da – ist’s. – Und zugleich packte es mich auch mächtig im Rücken, drückte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_010.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)