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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

jeden Preis. Mit Kloß wurde innige Freundschaft geschlossen, ebenso mit den Fischer’schen Eheleuten, bei denen er leicht Eingang fand, da sie in naher Verwandtschaft zu einander standen.

In kurzer Zeit war er im Müllerhause der beste „Herzensfreund“ geworden; er sang und betete mit diesen Leuten und tauchte sie immer tiefer und tiefer in den mystischen Sumpf, wobei ihm nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine vierzehnjährige Tochter Rosine Marie Beihülfe leistete. Die Tochter besonders mußte an dem finsteren Werke mitarbeiten. Als scheinbare Hellsehende erklärte sie die Fischer’schen Eheleute für „Auserwählte“, die den Teufel aus der Welt schaffen sollten. Dabei wahrsagte die Tochter, wie es der Vater ihr vorher eingab. Mit prophetischem Tone verkündete sie das nahende Weltgericht, redete mit Gott und dem Heilande, gab den Müllersleuten Verhaltungsregeln, – und die Getäuschten warfen sich gläubig vertrauend und mit innigster Liebe in die Arme der Hellsehenden. Letztere verschrieb auch in ihrem Wunderschlafe allerhand Wurzeln und Kräuter, welche der Schmied zur Heilung kranker Menschen und Thiere verkaufte, – kurz er trieb Monate lang seinen Betrug in und außer dem Müllerhause mit großem Vortheile. Kloß, ebenfalls getäuscht, hat an dem Betruge nicht mitgeholfen, er glaubte aber an die Tollheiten, die das Wundermädchen aussagte.

Wir übergehen hier viele einzelne Sprossen, aus welchen der Schmied die finstere Leiter erbaute, auf der er die „Auserwählten und Begnadeten“ immer höher steigen ließ, bis dieselben, was er sicher nicht wollte, sich in ihrem Wahne auch auf die letzte Sprosse stellten und von da herabstürzten in die Menschenblutlache.

Das konnte aber der Schmied nicht gewollt haben. Damit hätten ja all die Vortheile und Genüsse für ihn aufgehört, die er von den Müllersleuten zog. Lieh doch Fischer noch am 16. Juli, drei Tage vor der Blutthat, willig und gern seinem „Herzensfreunde“ vierzig Thaler mit der Bemerkung, daß er ihm das Geld nicht wiederzugeben brauche. – Zum Morde sollte es also nicht kommen. Zwar hatte er den in geistige Nacht Gestoßenen auch Wurzeln und Thee gebracht, wovon sie trinken mußten, aber in der Untersuchung wurde nachgewiesen, daß dieselben nicht besonders schädlich waren. – Vielleicht auch wäre der Mord unterblieben, wenn die vom Teufelswahne Erfüllten die Rosse hätten abschlachten können, welche der Mühlknappe rettete.

Da aber kam der arme Häusler Flohr. Er wollte einen Sack Mehl aus der Mühle abholen, – er that das für den Schulmeister, da er für seine Kinder nur ein knappes Schulgeld zahlen konnte. Als er in die Wohnstube trat, fragte Fischer: „Das ist ja wohl Flohr?“

„Nein, der ist’s nicht,“ rief die Müllerin, „es ist Verstellung; es ist der Teufel.“

Mit diesem Zuruf warf sie einen Plättstahl nach ihm, was sie unter demselben Schrei heute schon gegen drei Andere gethan, ohne gerade hart zu treffen.

Flohr aber war hart getroffen; er taumelte zu Boden, und schnell versetzte die Müllerin ihm einige Stiche mit dem Degen. Dennoch raffte Flohr sich auf und sprang in den Hof. Unter dem Geschrei: „Der Teufel! Der Teufel!“ eilten die drei Rasenden ihm nach, erreichten ihn auf der Mitte des Hofes, wo der Verfolgte stürzte und nun die gräßliche Blutarbeit an ihm vollendet wurde.

Wir haben diese Arbeit angeschaut, haben den armen Mann gesehen, auch sein Weib und die Kinder, theils am Sarge auf dem Friedhofe, theils an der Blutstätte auf dem Mühlhofe, wo sie den Leib des Todten mit Blumen bedeckten und eine Julirose ihm in’s Knopfloch seines Kittels steckten – genug denn haben wir gesehen von der schauerlichen Tragödie. Auch erkannten wir genug. Nicht physisch, sondern weit mehr psychisch erklärten wir uns den Zustand jener drei Unglücklichen. Durch den von Kloß, hauptsächlich aber von Goldammer ihnen beigebrachten Wahn, daß man die im Alten Testamente vorgeschriebenen Opfer ehren, den Teufel bannen, sich und Andere mit Gott aussöhnen müsse durch Blut, kamen sie zur schrecklichen That. Und nun das Gebet dazu! Fischer sagte vor Gericht aus, daß er mit seiner Frau täglich dreimal knieend gebetet habe. Ganz recht, man werfe die eingekapselten Funken nur geschickt in pietistische Gemüther – und wie leicht werden die Flammen des Fanatismus aufsprühen!




Die Untersuchung dauerte weit über ein Jahr hinaus. Die Urthel, welche damals in Sachsen noch von der Leipziger Juristenfacultät oder dem Schöppenstuhle gefällt wurden, geben uns einen Gradmesser der verschiedenen Schuldhöhe.

Der Hufschmied Goldammer wurde mit mehrjähriger Zuchthausstrafe ersten Grades belegt. Damals befand sich in Sachsen das strengste Zuchthaus noch in Zwickau. Goldammer, so kräftig und stark er von Natur war, hielt die harte Zuchtstrafe nur kurze Zeit aus; er erlag ihr bald. – Seine Kinder sind brave Leute geworden.

Die Müllersleute Fischer kamen nicht als Verbrecher, sondern als Wahnsinnige nach Waldheim, wo zu jener Zeit theils Armen- und Krankenanstalt, theils Irrenhaus und milderes Zuchthaus bestand. Sie wurden auf unbestimmte Zeit daselbst untergebracht. Späterhin, als das Irrenhaus nach Colditz verlegt wurde, mußten sie auch mit dorthin. Erst nach dreizehn Jahren konnten sie entlassen werden. Trotz der großen Proceßkosten war ihnen das Mühlengrundstück erhalten geblieben. Sie kehrten dorthin zurück und lebten noch lange in der Mitte ihrer Kinder, die sie zu wackern Menschen erzogen. Jetzt ruhen sie auf demselben Friedhofe, wo das Kirchlein steht und wo auch der in finstrer Geistesnacht von ihnen getödtete Flohr ruht.

Die Kleinemagd Christine Birke, mehr als Verführte und zur Unthat mit Gezwungene verurtheilt, bekam nur ein halbes Jahr Gefängnißstrafe. Sie lebt heute noch und ist glückliche Mutter und Großmutter.

Auch die Tochter des Hufschmiedes Goldammer, welche, genöthigt durch ihren Vater, die Somnambule spielte, erhielt nur mäßige Strafe, die Mutter derselben aber ein halbes Jahr Zuchthaus. Beide sind gestorben. Endlich der Häckerlingsschneider Kloß. Er mußte nur auf ein einziges Jahr in’s Spinnhaus wandern – damals die mildeste Strafanstalt in Sachsen. Als er entlassen war, heirathete er noch und wohnte nun bei seiner Schwester, auf einem Dorfe in der Nähe von Roßwein. Zwar war ihm das Abhalten von Vorträgen streng untersagt, aber zuweilen versammelten sich die ihm treu gebliebenen pietistischen Querköpfe doch hier und da in einem Gehöfte, wo er seinem alten Berufe gemäß den Tag über Häckerling aus Stroh schnitt, am Abend aber sinnverwirrenden Katechismushäckerling aus seinem Kopfe darbot und sich freute, wenn für ihn der Zinnteller herumging. Er starb ziemlich arm und liegt auf dem Friedhofe zu Roßwein begraben. – –

Und wie wurde es mit mir? Wie ging es mir in Grimma? Der Rector zürnte sehr, aber ich mußte erzählen, und da die alte Frau Rectorin mit zuhörte und heimlich dann mit ihrem Manne sprach, so ging Alles gut – Strafe sollte nicht erfolgen.

Mit den übrigen Professoren, bei denen ich mich als Eingetroffener melden mußte, ging’s nun viel leichter, denn ich konnte sagen: „Der Herr Rector hat erkannt, daß ich nicht kommen konnte.“

Einer der Professoren, der Lehrer der Mathematik – es war der stramme, feueräugige Professor Töpfer mit gepudertem Haupte und dickem Zöpflein, an den gar Viele sich gern erinnern werden, die zu jenen Zeiten als Fürstenschüler dem Manne nahe standen – fragte mich, nachdem ich erzählt hatte:

„Was sagt Er zu dieser Geschichte? Hat Er darüber nachgedacht? Was trieb die Leute zu dieser schändlichen That?“

„Religiöser Wahnsinn,“ antwortete ich.

Er schritt in seiner derben Weise auf mich zu, schlug mich auf die Schulter und sagte: „Da hat Er Recht. – Und nun marsch in die Zelle!“

„Religiöser Wahnsinn“, er war es, unter dessen grausiger Gewalt die Müllersleute Fischer und ihre Magd die schaurige That vollbrachten. Wir sahen, daß dieser Wahnsinn sie nicht urplötzlich ergriffen hatte, sondern daß die pietistische Richtung, die ihnen schon eigen war, durch den Häckerlingsschneider gesteigert und dann durch die unsinnigen, mystischen Belehrungen von Seiten Goldammer’s zur höchsten Höhe getrieben wurde.

Von Stufe zu Stufe baut sich die geistige Nacht fast

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_839.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)