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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Im sechsten Jahrhunderte v. Chr. Geburt war das Dasein des Volkes wirklich geworden, was es nach der Brahmanenlehre sein sollte: die Reise durch ein Jammerthal voll scheußlichster Tyrannei ebenso entnervter wie verruchter Despoten und voll grauenhafter Selbstqual des religiösen Wahnsinns, zu dem es die Priesterkaste planmäßig vergiftet hatte, um über dem allgemeinen Elende in göttlichen Ehren zu thronen.

Ja, auch die Poesie ist eine weltgeschichtliche Macht, und die Lieder Homer’s haben das Völkergeschick mindestens ebenso wirksam bestimmt wie die Eroberungszüge des großen Alexander. Aber sie ist eine Macht nicht nur des Heiles, sondern auch des Verderbens. Sie vermag Nationen zu schaffen und aus der Zersplitterung herzustellen; wie denn auch Uns die Möglichkeit, durch Blut und Eisen wieder eine Nation zu werden, erst hergestellt worden war durch die Poesie unserer Lessing, Goethe und Schiller. Aber sie kann die Nationen auch vergiften zu unheilbarem Siechthum, wenn sie sich hergiebt zur schminkenden Helferin der Despotie und des geistesknechtenden Priesterdünkels; wie wir auch davon eben jetzt ein Beispiel erleben in dem hoffnungslosen Todeskampfe eines der höchstbegabten Völker, das auch seine Philippe zusammt der Inquisition so gänzlich zu verderben nimmer im Stande gewesen wären, wenn nicht seine Lope de Vega und Calderon geholfen hätten, es in den Abgrund des Elends hinunter zu dichten.

In den brasilianischen Urwäldern wächst eine Liane, welche als zarte Ranke das junge Bäumchen umschlingt. Emporgehoben von seinem Wachsthum wächst sie mit ihm in die Höhe. Dann läßt sie prachtvolle Guirlanden von seiner Krone bis auf den Boden herunterhängen und schmückt ihn über und über mit einer Blüthenfülle von prächtigem Farbenschmelz und berauschendem Duft. Zuletzt aber raubt sie dem Baume, den sie ziert, so Luft wie Licht. Ihre zarten Ranken verwandeln sich in ein Gewirr von armdicken Tauen, das erdrückend und erstickend auf ihm lastet und, eigene Wurzeln in die Erde krallend, auch den stärksten Riesenbaum endlich als Leiche zu Boden reißt. Man nennt sie daher den Matador, das ist den Mörder.

Diese Liane ist ein treffendes Bild der indischen Poesie, welche ihr Volk zum geschichtlichen Tode geführt hat, weil sie treulos wurde ihrem obersten Amte, das heilige Erbe der Heldensage lebensfähig zu bewahren, weil sie sich selbst dazu hergab, es zu fälschen im Sinne der Despoten und Priester, weil sie die epische Kunst, große Menschen handelnd zu veranschaulichen, verweichelte zur Gefühlsschwelgerei einer weltfeindlichen Bußeromantik und so das Epos freventlich verunstaltete, vernichtete.




Ein Häckerlingsschneider als Apostel.


Culturbild aus unserem Jahrhundert.


(Schluß.)


Wir kehren zurück zu dem Morgen, welcher an jenen blutigen Sonntag sich anschloß. Ich ging also nicht in meine Klosterschule nach Grimma, sondern hinaus auf den Beiersdofer Mühlhof.

Welch eine Menschenmenge war hier versammelt! Sogar auf den Dächern der Mühlgebäude und auf den umstehenden hohen Bäumen saßen Leute. Von einigen Reitern begleitet kam der Wagen mit den drei Gefangenen an. Der Müller und die Kleinemagd verhielten sich ruhig, nur die Müllerin sprach noch hitzig vom Teufel, von Aposteln, von Jesus, Abraham, Isaak, und der bekannten Opferfabel.

Als die Drei in ihren Ketten an die Gerichtstafel gestellt waren, die man im Hofe errichtet hatte, sprach der Untersuchungsrichter einige Worte mit dem Amtswachmeister. Dieser trat an den Wagenkorb, welcher am Abende vorher über den Leichnam gestülpt worden war. Stille herrschte an der Gerichtstafel, Stille ringsum. Die drei Gefangenen mußten die Augen auf den Korb richten. Der Wachmeister und der dabeistehende Wächter hoben den Korb empor und legten ihn zur Seite. Ein Schrei des Entsetzens ging jetzt durch die Menge – die drei Gefangenen blickten ruhig, ohne jegliches Zeichen einer innern Bewegung hin.

Kaum war der Korb abgehoben, da stürzte sich jammernd die Frau des Todten nieder auf den Leichnam; die Kinder, größtentheils Knaben, schrieen weinend: „O, der Vater, der Vater, der gute Vater!“ Und als nun die Kinder den todten Vater jammernd herzten, da ging ein Wehklagen durch die Menge und tausend Augen wurden naß. Die drei Gefangenen aber blickten ruhig und getrost auf Alles.

Das Verhör war kurz. Die Gefangenen legten volles Geständniß ab und rühmten sich ihrer That. Die Müllerin besonders gab zu den Acten: „Gott wollte es so haben. Ich wußte, was ich that, und da ich allein zu schwach war, mußten mein Mann und die Magd mir helfen.“

Bald wurden die Uebelthäter wieder zurückgefahren in ihre Gefängnisse – wohl Tausende begleiteten sie auch heute. Ich blieb längere Zeit noch in der stattlichen Mühle, welche überall von Wohlstand zeugte. In der Wohnstube setzte ich mich müde und ergriffen auf das Sopha, bis ich wieder hinaus mußte, denn man brachte den Leichnam zur gerichtlichen Section herein. Die weinende Wittwe kam hinterdrein mit den Kindern. Die Letzteren hatten einige Blumen aus dem Mühlgarten geholt und sie auf ihren Vater gestreut, auch eine Rose trug er in einem der Knopflöcher seines Leinwandkittels. Durch die Fenster aber fiel der Glanz der Himmelsrose – die Julisonne beschien die Mutter, die Kinder, den todten Vater.

Ich ging nach Leisnig zurück, hier und da auf einige Reiter stoßend, welche, um dem Häckerlingsschneider nachzuspüren, in die umliegenden Dörfer ritten, von denen man wußte, daß sie für denselben Partei nahmen.

Ein entschiedener Parteigänger, bei Meißen wohnend, hatte ihn auch wirklich versteckt; der Prophet war in dem Gute seines Beschützers in den Backofen gekrochen. Noch an demselben Tage aber kroch er wieder hervor und stellte sich freiwillig in dem Justizamte zu Meißen, von wo er später in das Leisniger Amt abgeliefert wurde. Hier offenbarte sich dann, daß er an dem blutigen Morde nicht die eigentliche, nicht die schwerste Schuld trug. Wohl hatte er einige Male seine „Vermahnungen“ in der Mühle gehalten und sonst noch die Müllersleute in ihrer finsteren pietistischen Richtung befestigt, ihnen vorgelesen, mystische Tractätchen gegeben, mit ihnen gefrömmelt und geschwärmt. Noch zehn Tage vor dem blutigen Ereignisse hielt er mit den Müllersleuten eine der „Betstunden“ ab, die sich von den „Vermahnungen“ dadurch unterschieden, daß sie nicht öffentlich, sondern in der Familie stattfanden und dabei nur gesungen und knieend gebetet wurde. Dennoch war es ein Anderer, der diese Leute auf die eigentliche Höhe der Geistesnacht trieb, auf welcher sie den Mord verübten.

Bald nach der eröffneten Criminaluntersuchung wurde dieser Andere verhaftet und in das Arresthaus zu Leisnig eingesetzt.

Der Hufschmied Goldammer, einundvierzig Jahre alt, in dem Dorfe Alt-Leisnig wohnend, war dieser andere Mann.

Wir bemerken, ehe wir weitergehen, daß wir, wie bisher, auch jetzt nur den Kern, nur die Hauptsachen aus den ungemein dickleibigen Acten geben. Wollten wir auf die Nebensachen eingehen, dann müßte der gegenwärtige Artikel, selbst wenn man sich dabei nur an den vor dreißig Jahren gedruckten Auszug aus den Acten halten würde, doch zu einem starken Buche werden. Unser Artikel ist eine getreue Skizze aus der Acten.

Goldammer hatte den Häckerlingsschneider oft gehört, in nähere Bekanntschaft aber kamen Beide erst gegen Fastnacht 1818, wo Kloß nun auch eine „Vermahnung“ in Goldammer’s Wohnung hielt. Letzterer hatte das gewünscht, denn er wollte den Schein gewinnen, als sei er nun auch ein warmer Kloßianer. Unter dieser Verschmitztheit gedachte er die wohlhabenden Müllersleute auszubeuten, deren pietistischer Hang ihm bekannt war. Geld aber brauchte er, denn Ambos und Hammer reichten nicht aus, ihn bei seinem wüsten Leben zu ernähren. Ueberdies hatte er eine Frau und sieben Kinder – also Geld wollte er schaffen um

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_838.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)