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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 52.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Fliederzweige.
Eine einfache Geschichte, einem Freunde nacherzählt von H. S. Waldemar.


Mein Vater war in dem kleinen Städtchen Wiesenheim ein ehrsamer Schneidermeister, und ich glaube, sein Vater und Großvater betrieben dasselbe Handwerk.

Welchen Lebensberuf meine Ahnen in jenen Tagen hatten, da die alten Deutschen in Thierfellen einhergingen, davon schweigt unsere Familientradition, aber so viel steht fest, daß ein Karl Nöhring schon geschlitzte Wämser und Pluderhosen verfertigte und dadurch wahrscheinlich mehr Geld verdiente als der jetzige Karl Nöhring, mein ältester Bruder, durch Einsegnungsleibröcke und Turnanzüge. Außer durch die vererbte Treue für das löbliche Schneiderhandwerk ist das Geschlecht der Nöhrings noch besonders dadurch bemerkenswerth, daß stets der älteste Sohn der Familie den Namen Karl bekommt, wie der zweite den Namen Gottlieb; stellte sich, was im Laufe der Zeiten ziemlich häufig vorgekommen ist, noch ein dritter oder gar ein vierter Sohn ein, so wurde er nach dem Kalenderheiligen seines Geburtstages genannt. Von weiblichen Familiengliedern kennen wir eigentlich nur Annen und Marien und die Ueberlieferung weiß wenig von ihnen zu erzählen, so wenig, daß man guten Grund hat anzunehmen, daß die Annen und Marien Nöhring die besten Frauen ihrer Zeit gewesen sind. Mit gerechtem Tadel aber spricht die obenerwähnte Ueberlieferung von einem entarteten Schneidermeister Nöhring, der sich unterfing, seinen ältesten Sohn Richard taufen zu lassen; daß er nebenbei noch zuweilen ein Glas über den Durst trank, konnte bei so deutlich an den Tag gelegter Verachtung althergebrachter Sitte nicht weiter Verwunderung erregen. Der kleine Richard starb aber noch im Kindesalter, und der Stammbaum der Nöhrings erhielt sich unbefleckt.

Nun geschah es aber, daß, als ich das Licht der Welt erblickte, die Familienwiege vor mir schon von einem Karl, einem Gottlieb, einem Gideon und einem Desiderius benützt worden war, welch letzterer aber seinen Namen mit Unrecht trug, denn nach den drei Knaben wäre meinen Eltern eine Marie oder eine Anna erwünschter gewesen.

An dem Tage, da ich die enge Wohnung der allemal jüngsten Nöhrings bezog, stand eben Mittfasten im Kalender. Was war da zu thun? Ein kleiner „Mittfasten“ Nöhring war noch nicht dagewesen, und der Pfarrer würde diesen wohl auch schwerlich als christlichen Taufnamen haben gelten lassen. Das muß meinem Vater wohl viel Sorge und Kopfzerbrechen gemacht haben, denn etwa acht Tage nach meiner Geburt trat einer unserer geachtetsten Mitbürger, Herr Hartlieb, schlechtweg der alte Hartlieb genannt, kopfschüttelnd in das Zimmer, in welchem mein Vater mit zwei Gesellen am Schneidertische saß. Er trug eine neue Tuchhose in der Hand und redete meinen Vater also an:

„Ei, ei, lieber Meister, wo habt Ihr nur Eure Gedanken gehabt? Schickt mir da die bestellte Hose in’s Haus, und als ich sie anziehen will, findet mein rechtes Bein unten keinen Ausweg. Seht her, Ihr habt die rechte Hose unten zugenäht.“

Die beiden Gesellen verbissen sich mit Mühe das Lachen; mein Vater aber kraute sich hinter dem Ohre und bat den geschätzten Kunden tausendmal um Verzeihung. Er wolle sich solcher Nachlässigkeit nicht wieder schuldig machen, denn er hoffe, seine Frau werde ihm keinen zweiten derartigen Streich spielen und ihm ein Söhnlein an Mittfasten schenken.

Der alte Hartlieb fragte nun weiter, was denn dabei Schlimmes sei, daß ein Kind an Mittfasten geboren würde, und als ihm mein Vater von dem alten Familienbrauche erzählte, sagte er:

„Wißt Ihr was, Meister? Nehmt mich zum Taufpathen für Euer Söhnlein und gebt ihm meinen Namen: Franz! Der ist so gut, wie irgend ein anderer.“

Eine solche Ehre schlug mein Vater natürlich nicht aus, und so ist mir der Zufall, daß ich an Mittfasten geboren bin und mein Vater in Frage dessen die Hosen seines besten Kunden am unteren Ende zusammengenäht hat, zum größten Glück geworden, denn was ich bin und habe, danke ich meinem Pathen, dem alten Hartlieb. Er war trotz seiner Sonderbarkeiten einer der angesehensten Männer von Wiesenheim, obwohl er, was sonst in einer kleinen Stadt besonderes Ansehen verleiht, keinerlei Amt bekleidete und auch, seinem Vermögen nach, nicht die erste Stelle einnahm. Denn wenn ich ihn vorhin meines Vaters besten Kunden nannte, so darf das nicht so verstanden werden, als hätte er eine sehr umfangreiche Garderobe besessen – er fand nur stets sehr bald Jemanden, der seiner noch sehr brauchbaren Kleider dringend bedürftig war. Und so hatte er stets genug, einem Mitbürger aus der Noth zu helfen, und wenige gingen ohne Hülfe, keiner aber ohne Trost und Rath von ihm. Er wohnte in einem kleinen, von seinem Vater ererbten Hause, hart am Ende der Stadt, dort, wo sie nur durch ein kleines Gewässer von den ausgebreiteten Wiesen getrennt ist, denen sie ihren Namen verdankt.

Vor vielen Jahren – das heißt viele Jahre ehe er sich meinem Vater als Gevatter anbot – hatte er sich noch ein Nachbarhaus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_831.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)