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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

genannt Manu’s Nothgesetz, gebietet ihm, seinen unfähigen Stiefbruder Nachkommenschaft zu erwecken. So ist er dennoch der Großvater der Kuru geworden, ohne es in anerkannter Weise zu sein. Wenn nun aber in der ganzen ferneren Darstellung die Tendenz hervortritt, die Schicksale seiner Nachkommen als fortgesetzte Erdenbuße erscheinen zu lassen, so verräth das deutlich die spätere Brahmanenlehre.

Wir werden also schwerlich irre gehn mit der Annahme, daß ursprünglich die Menschwerdung des Himmelsgottes nicht als eine gezwungene Verbannung dargestellt war, sondern als freiwillige Erdenfahrt, von vornherein unternommen in der Absicht, das Heil der Menschen zu fördern durch Erzeugung eines Heldengeschlechtes. Denn eben dieser Auffassung begegnen wir bei den anderen epischen Völkern, welche aus demselben arischen Urquell geschöpft hatten, in der iranischen Sage, in der griechischen, wie namentlich im Heraklesmythus, und zumal in unserer eigenen germanischen, von Wodan Sigi und den Wölsungen. Dem brahmanischen System freilich lief das, wie wir noch sehen werden, so schnurstracks zuwider, daß sie diesen Gräuel einer freiwilligen Vermenschlichung der Gottheit, da er nicht leicht auszutilgen war, in der uns vorliegenden Weise umdichten mußten.

Kurz, die Kuruinge und Pandu waren einander ursprünglich gerade so entgegengestellt wie unsere Wölsunge und Nibelunge. Denn diese, die Nibelunge, sind die Söhne der Nachtwelt und namentlich von ihrem Haupthelden, Hagen, hat uns die Sage seine Erzeugung durch einen finstern Erdgeist ausdrücklich erhalten. Jene aber, die Wölsunge, stammen her von Sigi, dem Sohne, welchen Odin mit sterblicher Mutter zeugt, nachdem er selbst sich zur freiwilligen Erdfahrt von der Magd eines Bauern als Knecht Bölwerk hat gebären lassen. Die Kämpfe dieser beiden Geschlechter haben also die höhere Bedeutung eines Kampfes der Mächte des Lichts und des Heiles mit denen der Finsterniß und des Verderbens. Da dies auch in der Zendreligion und im ganzen iranisch-persischen Epos überall das ausgesprochene Hauptthema bildet, dürfen wir dasselbe mit Sicherheit auch für die ursprüngliche Gestalt des Mahabharata annehmen.

Uebrigens ist es bemerkenswerth, daß auch die Umfälschung des Mahabharata zu Gunsten der Pandu in unserem Epos ihr Seitenstück gefunden hat. Wie der ursprüngliche Hauptheld Karna von der Ueberarbeitung zurückgedrückt und mit Ungunst behandelt wurde, um statt seiner die Panduhelden zu verherrlichen, den Krischna und besonders den Ardschuna, den indischen Hagen, der den verrathenen Karna hinterrücks erschießt, so ist im Nibelungenliede des Mittelalters nicht mehr der Wölsung Sigfrid, sondern der Nibelung und Meuchelmörder Hagen der eigentliche Held, für den der Dichter Theilnahme und Bewunderung zu wecken bestrebt ist.

Auch mit dem homerischen Epos hat das Mahabharata einige Züge gemein. Wenn zum Beispiel der beleidigte Karna, dem man seine angebliche Abkunft von einem Fuhrmanne vorgeworfen, grollend ausruft:

Indessen der Feind euch stürmend bedrängt
 auf dem Felde der Schlacht, gedenke nun Ich
Geruhig zu sitzen im eigenen Zelt,
 bis der Hülfe bedürftig der Könige Sproß
Durgodhana selbst, die Stirne geschmückt
 mit dem goldenen Reif der Kuru, erscheint
Und als Bittender naht mir, dem Fuhrmannssohn.....

wer würde da nicht sofort an den müßig grollenden Achill erinnert? Und wenn Draupadi, eine Heldin des Epos, den um sie werbenden Fürsten verkündigt, daß sie demjenigen als Gemahlin folgen werde, welcher den berühmten Bogen ihres Vaters zu spannen und mit dem Pfeile das Ziel zu treffen im Stande sei, so ist darin der Bogenkampf der Freier um Penelope unverkennbar.

Schon im Mahabharata ist auch die zweite viel verderblichere Umwandlung des Epos, die religiöse zu Gunsten einer herrschsüchtigen Priesterschaft, sehr deutlich erkennbar, so namentlich in einer der friedlichen Zwischenerzählungen, die uns ein Bild der Zustände des Volkes nach den Eroberungskriegen entwerfen. Es ist dieselbe, aus welcher im zweiten Jahrhunderte nach Christi Geburt Kalidasa den Stoff zu seinem berühmten Drama „Sakuntala“ geschöpft hat. Der Stammfürst hat sich durch die Dictatur im Kriege in einen unumschränkten Herrscher verwandelt. Duschmanta, der König, heißt schon der Weltgebieter und hat einen Harem von Frauen, die ihn preisen als Abbild des Gottes Indra. Mit ungeheuerm Gefolge und verschwenderischem Prunke zieht er zur Jagd. Nebenher, wie ein alltägliches Gewürz des Vergnügens wird es erwähnt, daß die verwundeten Elephanten eine Menge von Menschen zerstampfen. Aber dieser allmächtige Herrscher betritt mit Ehrfurcht den Hain der heiligen Büßer und legt demuthsvoll die Zeichen der Königswürde ab, bevor er die Schwelle des Brahmanen Kauwa überschreitet. Letzterer besitzt Wissenschaft von Dingen, die er weder gesehen noch gehört hat. Sakuntala, als es scheint, daß der König sie treulos verleugnen wolle, fragt sich, was sie denn in einem früheren Leben verbrochen habe, um solche Strafe zu verdienen. Weil sie aber die Pflegetochter des heiligen Mannes ist, muß eine Stimme vom Himmel herab den Knoten lösen. Im heiligen Haine befindet sich schon eine ganze Colonie frommer Büßer, welche bedacht sind auf Abtödtung der Sinne und ihre Schüler lehren, wie man sich durch Versenkung in die Gottheit mit dem ewigen Urgeiste vereinigen könne.

Wie das Epos vollends umgeschaffen wurde zur Priesterwaffe und wie es als solche nur allzuwirksam mitgeholfen, dem Volke die letzte Thatkraft zu lähmen und es willenlos zu beugen unter ein erdrückendes Joch: das wird uns die Betrachtung der anderen Sammlung, Ramajana, in der zweiten Abtheilung dieses Briefes zeigen.


(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


„Deutsche Kunst in Lied und Bild.“ Neben dem neulich von uns erwähnten „Deutschen Künstler-Album“, herausgegeben von Ernst Scherenberg, verdient als ein würdiges Denkmal deutschen Dichtens und Schaffens das von Albert Traeger redigirte Jahrbuch „Deutsche Kunst in Lied und Bild“ (Leipzig, Julius Klinkhardt) eine rühmende Hervorhebung; denn es giebt gegenüber der großsprecherischen Behauptung von der Ohnmacht und Armuth der heutigen deutschen Dichtung den erfreulichen Beweis, daß unser Dichterwald an frischen und ursprünglichen Talenten gegenwärtig so reich ist, wie er je war. Alle Töne der Lyrik, vom leichten sangbaren Liede bis hinauf zum ernsten Reflexionsgedichte, daneben die Ballade und die Romanze, die Ode und die Elegie, das Sinngedicht und das Epigramm – alle diese lyrischen Dichtungsarbeiten finden in dem Traeger’schen Album durch oft überraschend schöne Beitrage ihre Vertreter. Und wenn neben dem Guten und Besten hier und da eine Leistung von mittelmäßigem Werthe auftaucht, so ist das ein unvermeidliches Loos, welches das Album mit allen derartigen Unternehmungen theilt. Dichter aus allen deutschen Gauen haben diesmal zu dem Jahrbuche beigesteuert. Am meisten vertreten ist das Königreich Sachsen, so durch R. Gottschall, Fr. Hofmann u. A. Das reichsherrliche Berlin wird vor Allem durch den als Lyriker weniger bekannten Fr. Spielhagen repräsentirt, und unter den übrigen preußischen Dichtern ragt F. Dahn hervor, der aus der Stadt der reinen Vernunft sein philosophisches Lied „Lucifer“ singt; aus München läßt H. Lingg seine Lyra erschallen, während von Stuttgart her K. Gerock u. A. sich in den Reigen der Sangesbrüder mischen; vom grünen Rhein herüber tönen die Lieder E. Rittershaus’ und seiner Genossen, und das schöne Deutsch-Oesterreich wird in erster Linie durch den genialen R. Hamerling repräsentirt. Bietet das Träeger’sche Album somit eine reiche Auswahl duftiger Blüthen der Poesie, zu denen der Herausgeber selbst einige stimmungsvolle Lieder beigesteuert hat, so muß die Sammlung von Lithographien und Farbendrucken nach Gemälden unserer bedeutendsten Künstler, welche den Gedichten beigegeben ist, eine nicht minder reiche genannt werden. Bringen wir noch die prächtige innere und äußere Ausstattung des Werkes und die den Schluß bildenden musikalischen Beiträge in Anschlag, so dürften wir, wegen einer gediegenen Weihnachtsfestgabe befragt, kaum ein passenderes Prachtwerk zu empfehlen wissen, als dieses Album „Deutsche Kunst in Lied und Bild.“




Das deutsche Volkslied (mit Abbildung, Seite 819) hat schon seit mehr als einem Jahrzehnt in Georg Scherer, dem Dichter zarter und sinniger Lieder einen treuen Freund und Pfleger gefunden. Scherer begnügte sich nicht damit, nur aus bereits gedruckten Sammlungen ein neues Buch auszuwählen, sondern er schöpfte aus dem Urquell des Volksliedes, aus dem Volke selbst. Aus den verschiedenen Heimstätten deutschen Lebens trugen sein eigener Eifer und die Emsigkeit gleichstrebender Genossen einen frischen Schatz von Liedern zusammen, und erst mit diesem in der Hand schlug er die seit Herder bei uns angehäufte Literatur der Volkspoesie auf und brachte so, vergleichend, sichtend und säubernd, ein Musterbuch zu Stande.

Schöpfung, Verfall, Neuerwachen und neue Blüthe des Volksliedes hielt stets mit unseren nationalen Schicksalen gleichen Schritt. Die Mehrzahl der heute noch bevorzugten Volkslieder danken wir dem aufgeweckten,


Hierzu der „Weihnachts-Anzeiger“, Extrablatt der „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
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