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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

meide mich! Aber da ich bald sterben werde, soll nichts Gewaltsames geschehen.‘

Der Abschied war hart. Die sonst so starke Mariana zerfloß in Thränen; mir brach fast das Herz. Als ich auf der Straße stand, war es mir, als hätte ich mich von mir selber losgerissen und sei nur mein Schatten.

Es war im April, als ich W. verließ. Laue Winde brausten durch’s Land; die Bäume knospeten; vollgesogene Wolken ließen große Tropfen auf das sprossende Gras herabfallen. Diese sehnsüchtige, drängende Natur erweckte in mir eine solche Verzweiflung, daß mein ganzes Wesen ungestüm zu Marianen zurücktrieb. Hundertmal war ich im Begriffe, aus der Postchaise zu springen und über die Berge und durch die Haide zu ihr zurückzulaufen. Vier Wochen ohne Marianen leben, vier Wochen! Der Gedanke warf mich fast nieder. –

Meine Ankunft im Stifte wurde gefeiert; es war mir lästig, denn ich sollte eine Freude zeigen, die ich nicht empfand.

Mariana’s Amme hat einen unverheiratheten Bruder, dem dieses Häuschen gehört. Er willigte ein, Mariana und seine Schwester aufzunehmen. Mariana und ich schrieben uns täglich; unsere Briefe gingen durch die zuverlässige Hand von Christinens Bruder. Man war im Stifte gewöhnt, öfters Bauern zu sehen, welche mir Pflanzen und Insecten brachten. Unter diesem Vorwande kam Christinens Bruder zu mir, auch dann noch, als Mariana angekommen war, denn da wir uns nicht täglich sehen konnten, schrieben wir uns häufig. Zehn Tage nach meiner Ankunft im Stifte schrieb mir Mariana, daß ich keinen Brief mehr an sie abschicken solle, da sie in fünf Tagen abreisen werde. Sie sei wohl und könne nicht länger mehr die Trennung ertragen. Freude und Angst durchzuckten mich. War es nicht gefährlich, die Reise schon so früh zu wagen? Ich stelle mir noch jetzt täglich, stündlich die Frage, ob Mariana nicht noch leben würde, wenn sie der ärztlichen Vorschrift gehorcht hätte. Wäre sie nicht gänzlich zu retten gewesen, wenn nicht der unselige Glaube an ihren nahen Tod sie jede Vorsicht hätte für unnütz ansehen lassen? Das sind Dinge, welche nicht zu ergründen sind.

Mariana kam. Um alles Aufsehen zu vermeiden, hatte sie in D. die Postchaise verlassen und eine Landkutsche genommen, mit der sie spät Abends hier eintraf. Ich lauschte im Stiftsgarten unter den Kastanien, von wo man dieses Häuschen sieht.

Als der Wagen unten am Stifte vorbeirollte, drohten mir die Kniee zu brechen, und in einer Art süßen Wahnsinns glaubte ich das Rollen der Räder zu hören, als es längst in der Ferne verhallt war. Dann nahm ich mein Fernrohr an’s Auge und bohrte meinen Blick in die Finsterniß.

Ich hatte stets die Gewohnheit einsamer Spaziergänge und konnte daher drei- bis vier- oder auch mehrmal wöchentlich Mariana besuchen, ohne Verdacht zu erwecken. Dieses Haus war unserm Geheimnisse günstig; denn man kann, wie Sie wissen, anstatt von der Straße den Hügel hinanzusteigen, von hinten durch den Tannengrund das Haus erreichen, ohne gesehen zu werden, da die Tannen bis an den Gemüsegarten heraufgehen.

Lassen Sie mich schweigen über unser Wiedersehn!“

Bodiwil ging jetzt im Zimmer auf und ab, jeden Gegenstand mit andächtigem Blicke betrachtend. „Dieses Buch hat ihre Hand berührt,“ sprach er; „auf diesem Bilde hat ihr Blick geruht; diesen Teppich hat ihr Fuß gestreift; auf diesem Kissen hat ihr Haupt geruht; aus diesem Glase hat ihr Mund getrunken – Heinrich, sagen Sie mir, ist es möglich, daß sie ganz todt ist? – Alles soll so bleiben bis an mein Ende. Dieses Zimmer ist mein, und Niemand hat das Recht, etwas darin zu berühren. Ich will, daß ihr Odem, der noch in dieser Luft sich wiegt, nicht verwehe; ich will etwas Körperliches von ihr behalten.“

Bodiwil setzte sich wieder und stützte den Kopf in beide Hände.

„Erzählen Sie weiter, erzählen Sie mir Alles!“ bat ich.

„Alles!“ rief er bitter. „Ich habe nichts mehr zu erzählen; die Geschichte ist aus.“

„Aber an was starb sie denn?“ fragte ich.

„Die Zigeunerin hat es gesagt. – Als Mariana hierher kam, war sie, kleine abendliche Wundfieber ausgenommen, wohl. Allein schon nach wenigen Tagen wurden diese Fieber stärker, und nach vier Wochen kam das Sumpffieber hinzu. Der herbeigerufene Arzt verordnete ihr Bergluft. ‚Es ist Alles umsonst,‘ sagte sie zu mir, ‚ich werde sterben, und wenn ich auch in die Alpen gehe; ich fühl’s – ich weiß es. Ich will keine Woche, keinen Tag in unnützer Trennung von Dir verlieren. Ein Leben fern von Dir ist auch ein Tod. Warum soll ich dem einen entfliehen, um dem andern in die Arme zu sinken? Die Trennung würde mein Ende nur beschleunigen.‘

Sie wollte nicht gehen und klagte bitter, so oft ich davon sprach. Sie sah dem Tode ruhig entgegen, von der Ueberzeugung ausgehend, daß es ihr Schicksal sei. War es ihr Schicksal? Hat die Zigeunerin wahr gesprochen? Zeichnet die Natur unser Schicksal in unsere Hand? Sind wir zu dem oder jenem Ende vorausbestimmt? – Ich erinnere mich, daß der Fürst Ap., als Mariana eine Isis vollendet hatte, das Bild lange betrachtete und dann zu mir sagte: ‚Wenn ich Jemanden kenne, der mehr Genie hat als Sie, Bodiwil, so ist es Mariana Santorin. Aber ich fürchte, sie wird nicht zum Ruhme gelangen, denn solche Wunder sterben früh.‘“ –




Bodiwil’s Schmerz ward von diesem Tage an milder. Er gab seine Lectionen im Stifte und widersprach mir nicht, wenn ich ihm die Vortheile einer Reise nach Deutschland auseinandersetzte. Er schien freilich nicht davon überzeugt zu sein; allein ich begnügte mich für den Augenblick mit der Geduld, mit welcher er mich anhörte.

Als ich ernstlicher in ihn drang, sagte er: „Ich glaube, Heinrich, Sie sind ein großer Heuchler. Ein Mann, wie Sie, weiß sehr gut, daß der Ehrgeiz eine schmerzhafte Krankheit ist. Warum wollen Sie mir diese Krankheit einimpfen? Ist dies Freundschaft?“

Ein anderes Mal entgegnete er mir: „Sie sollten wissen, daß ich viel zu vernünftig bin, als daß der Ruhm Reiz für mich haben könnte. Ich achte die Menschen viel zu wenig, als daß es mir einfiele, von ihnen bewundert werden zu wollen. Was den Ruhm nach dem Tode betrifft, so ist man seiner niemals sicher, und wäre man es auch, was liegt daran? Ich finde die Befriedigung des Gedankens, nach dem Tode von Menschen, die wir nicht kennen und die noch gar nicht geboren, folglich uns gleichgültig sind, zuweilen noch genannt zu werden, eine kindische, eine höchst kindische.“

„Sie leugnen doch aber nicht den Vorzug, Genie zu haben, und die Pflicht, es für die Menschheit zu verwerthen?“ rief ich.

„Ich leugne nicht den Vorzug, Genie zu haben, aber ich leugne die unbedingte Pflicht, es für die Menschheit zu verwerthen,“ erwiderte Bodiwil. „Eine edle, große Handlung thut mehr für die Menschheit und ihre Veredlung, als alle Gemälde und Statuen der Welt je für sie gethan haben und noch thun werden. Mein Glaube ist der: Der mehr oder minder empfängliche Mensch empfängt von einem Kunstwerke einen sehr oberflächlichen, einen sehr flüchtigen, einen sehr zweifelhaften Genuß und keine nachwirkende Erhebung des Gedankens. Eine Natur hingegen, welche den göttlichen Funken in sich trägt, empfindet in einem Kunstwerke sich selbst und dieses kann weder die Gedanken dieser Natur bereichern, noch ihre Empfindungen veredeln, noch ihre Gestaltungskraft ausbilden. Wer den göttlichen Funken in sich hat, ist und bleibt positiv in seiner Natur.“

Drei Wochen nach Mariana’s Tode kam er zu mir auf mein Zimmer und sagte: „Heinrich, ich will Ihnen meinen guten Willen und meine Dankbarkeit für Ihre Freundschaft beweisen: ich werde mit Ihnen nach Deutschland reisen.“

Ich umarmte ihn vor Freude. Der Prälat gab ihm einen Urlaub von sechs Monaten. Am Tage vor unserer Abreise ließ dieser mich zu sich rufen.

„Ich weiß Alles; verheimlichen Sie Bodiwil, daß ich Kenntniß davon habe!“ sagte er. „Suchen Sie ihn um jeden Preis dem Leben zu erhalten! Wenn es nothwendig ist, werde ich seine Entlassung aus dem geistlichen Stande erwirken. Schreiben Sie mir, wenn die Zeit dazu gekommen ist!“

Wir hatten beschlossen, den folgendem Morgen abzureisen. Der Postwagen, von M. kommend, sollte unten auf der Straße halten und uns aufnehmen. Am Abend ging Bodiwil in’s Häuschen auf dem Hügel; gegen zehn Uhr kam er zurück. Wir plauderten bis gegen Mitternacht, ordneten unsern Reiseplan

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_818.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)