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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

‚Geben Sie mir Ihre Hand! Ich will Ihnen auch wahrsagen,‘ sagte ich zu ihr. Sie reichte sie mir hin.

Die Hand, äußerlich mattweiß, war auf der inneren Fläche zart geröthet wie ein Rosenblatt. Diese Röthe folgte genau der Zeichnung der Hand bis zu den Fingerspitzen. Es sah aus, als ob sie mit Rosenblättern gefüttert wäre. Ich weiß nicht, ob Sie sich den Reiz einer solchen Hand vorstellen können?“ fragte Bodiwil.

Ich nickte mit dem Kopfe.

Bodiwil fuhr fort: „Kaum hatte ich diese Hand in die meinige gelegt, als ich vergaß, warum ich es gethan. Es war mir, als hielte ich Mariana’s Seele in meiner Hand. Das Mädchen sah es, und obschon selbst bewegt – ihre Hand zitterte in der meinen – sagte sie: ‚Sie wollten mir wahrsagen, nicht wahr?‘

Ich hatte nicht den Muth, ihre Hand zu prüfen. Ich sagte: ‚Es war nur Scherz; ich verstehe mich nicht auf Zigeunerkünste. Ich wollte Sie nur bitten, nachzudenken, zu welchem Zwecke die Natur unser Schicksal in unsere Hand gegraben hätte. Etwa, damit wir es erfahren, wenn wir zufällig einer Zigeunerin begegnen? Und zu was trügen diejenigen Menschen, welche der Zigeunerin nicht begegnen, ihr Schicksal in den Linien der Hand? Versprechen Sie mir, darüber nachzudenken!‘

‚Ich hatte Unrecht, es Ihnen zu erzählen – denken Sie nicht mehr daran!‘ bat sie.

Von diesem Tage an war es, als wären wir uns schweigend um einen Schritt näher gekommen. Ich nahm mich jetzt weniger zusammen: oft überraschte sie mich, wie ich müßig zu ihr hin schaute; wenn sie ging, gaben wir uns jedesmal die Hand, und ich glaubte zuweilen zu fühlen, daß Mariana dabei von einem leisen Zittern ergriffen wurde. Aber die Lippen schwiegen, die ihren und die meinen. Es war in diesem stummen Kampfe etwas Süßes und etwas Entsetzliches.

Mariana’s Eifer ließ jetzt auch nach. Sie brachte stets seltener Zeichnungen von Hause mit, und auch bei mir saß sie oft müßig und zerstreut vor der Staffelei. Dies beunruhigte mich; ich fürchtete, sie fühle sich krank, und suchte sie auszuforschen. Sie, die immer meine Gedanken errieth, sagte: ‚Nein, ich bin nicht krank; allein, da ich doch nicht mehr lange genug leben werde, um etwas Tüchtiges leisten zu können, warum soll ich so viel arbeiten?‘

Diese Aenderung in ihrem Wesen beängstigte mich. Ich fragte mit schlecht verhehlter Bestürzung, ob sie den Unterricht aufgeben wolle.

‚Aufgeben? Wie meinen Sie das?‘ fragte sie, mich erstaunt anblickend.

‚Nicht mehr her zu mir kommen –‘ sagte ich mit gepreßter Stimme.

‚Nicht mehr her zu Ihnen kommen?‘ rief sie, vom Stuhle aufstehend und beide Hände auf die Brust drückend. ‚Was sollte dann aus mir werden, wenn ich nicht mehr her zu Ihnen käme? – Mein Gott! Mein Gott!‘

Mir flimmerte es vor den Augen, als ich sie so reden hörte, und das Blut schoß mir in Wogen zum Herzen. Ich erfaßte ihre Hände; sie entriß sie mir und schlug sie vor das Gesicht.

‚Mariana, haben Sie Erbarmen mit mir! Ich wollte Ihnen nicht wehe thun,‘ rief ich außer mir. Sie sank sprachlos in einen Stuhl. Meiner nicht mehr mächtig, stürzte ich zu ihren Füßen und rief ihren Namen.

In diesem Augenblicke schellte es an der Hausthür. Es waren zuweilen Besuche gekommen; ich hatte Mariana immer unbefangen als meine Schülerin vorgestellt. In diesem Augenblicke aber konnte ich sie den Blicken Fremder nicht preisgeben.

Ich nahm sie auf meine Arme und trug sie in das an das Atelier stoßende Zimmer, wo ich sie zu bleiben bat, bis ich zurückkäme. Ihren Hut und Mantel, welche auf einem Stuhle im Atelier lagen, deckte ich mit einem Teppiche zu. Der Bediente meldete mir einen Fremden; ich ließ ihn bitten, einzutreten. Er war jung, groß gebaut und von schöner, aber finsterer Gesichtsbildung.

‚Sie kennen mich nicht?‘ fragte er.

Ich verneinte höflich.

‚Mein Name ist Julian Santorin; ich komme, meine Schwester nach Hause zu führen,‘ sagte er.

‚Seien Sie mir willkommen!‘ versetzte ich. ‚Ihre Schwester hat mein Atelier heute früher als gewöhnlich verlassen; ich bedaure, daß Sie sich umsonst zu mir bemüht haben.‘

‚Ich bin entschlossen, den Unterricht meiner Schwester abzubrechen,‘ sagte Santorin. ‚Es verträgt sich mit den Verhältnissen und meinen Gefühlen nicht, daß Mariana Santorin Unterricht bei einem Stiftsherrn von Constantin nehme. Wenn Sie den richtigen Tact besäßen, so hätten Sie meine Schwester nicht als Schülerin angenommen.‘

Ich war tief verletzt. ‚Mein Herr,‘ sagte ich, ‚ich bin nicht gewöhnt, Zurechtweisungen von Menschen, die ich nicht kenne, anzunehmen; ich weise daher mit Entschiedenheit Ihre Bemerkung zurück.‘

‚Sie kennen doch den Haß der Santorin?‘ fragte er höhnisch.

‚Der Haß ist mir keine Pflicht, wie er es Ihnen zu sein scheint,‘ erwiderte ich. ‚Die Stiftsherren von Constantin erinnern sich der Santorin’schen Gewaltthätigkeiten nicht mehr. Ihre Schwester ist eine geniale Erscheinung, deren wunderbare Fähigkeiten zu fördern ich mit Freuden übernahm. Name und Verhältnisse fallen vor der Kunst in Nichts zusammen.‘

Santorin maß mich mit drohendem Blicke und sagte: ‚Es sind vielleicht zehn Jahre her, daß ich meinen Hund auf den Stiftsherrn Bodiwil hetzte, weil er meine Schwester auf den Armen getragen hatte. Damals war ich ein Knabe, heute bin ich ein Mann. Ich will nicht, daß Mariana Santorin die Schülerin und Freundin des Stiftsherrn Bodiwil sei. Verstehen Sie mich? Des Knaben Waffe war ein Hund; des Mannes Waffe ist ein Messer. Erwarten Sie meine Schwester nicht mehr!‘

‚Ich erwarte den freien und selbstständigen Entschluß Ihrer Schwester,‘ sagte ich ruhig.

Santorin biß sich auf die Lippen und sprach: ‚Meine Schwester hat keinen freien und selbstständigen Entschluß zu treffen; ich bin ihr älterer Bruder und ihr Vormund.‘

Ich entgegnete: ‚Die Vormundschaft hat kein Recht, den freien Willen eines vernünftigen Wesens zu knechten; ihre erste Pflicht ist: Humanität.‘

‚Pfäffische Feinheiten sind nicht meine Sache,‘ sagte Santorin mit häßlichem Lächeln; ‚ich bin ein Dalmatier. Meine Sprache ist ein Messer in der Scheide, und wer mich nicht verstehen will, dem zeige ich das Messer ohne Scheide.‘

‚Ich meinerseits verstehe diese Banditensprache nicht,‘ versetzte ich, ‚und da wir uns gegenseitig nicht verstehen, so ist es besser, daß wir unser Gespräch abbrechen. Sollten Sie je mit friedlicheren und würdigeren Gesinnungen meine Schwelle wieder betreten, so werde ich Ihnen mit Freuden meine Hand reichen.‘

Santorin erhob seinen Arm und rief: ‚Meine Hand soll verfaulen, wenn sie je vergißt, was sie der Rache schuldig ist.‘ Mit diesen Worten ging er hinaus und schlug die Thür heftig hinter sich zu. Ich wartete, bis er das Haus verlassen und ich seine Schritte im Garten hörte, dann wandte ich mich, um zu Mariana zu gehen.

Sie stand auf der Schwelle des Ateliers, bleich, entschlossen, kühn, wie ich sie nie gesehen hatte. ‚Ich habe Alles gehört,‘ sagte sie. ‚Es war nicht Feigheit, was mich zurückhielt, sondern die Gewißheit, daß Blut fließen würde, wenn mein Bruder mich aus Ihren Zimmern kommen sähe.‘

,Mariana,‘ sprach ich heftig kämpfend, ‚ich verliere viel, ich verliere Alles, wenn ich Sie aufgebe; aber ich thue es dennoch. Ihr Bruder ist der Stärkere, und ich will nicht, daß Sie meinetwegen leiden. Ich bitte Sie, kommen Sie nicht mehr – sagen Sie mir Lebewohl!‘

‚In Ewigkeit nicht!‘ rief sie entschlossen und feierlich. ‚Ich will, wenn es sein muß, mit meinem Leben das einzige Recht meines Herzens behaupten. Bodiwil – ich saß lange in Stille und Gram und wollte das himmlische Feuer mit meinen Thränen ersticken; ich habe Unrecht an Gott, an Ihnen und an mir selbst gethan. Ich weiß, Sie haben nicht zu mir gesprochen, weil Sie ein Mönch sind; darum, und weil ich nicht mehr lange leben werde, will ich sprechen. Bodiwil – ich will nicht Gott aus Ihrem Herzen reißen; ich will nicht Ihr Gelübde lockern; ich will nicht Ihre geweihten Finger beflecken – aber ich sage Ihnen, daß ich Sie liebe, mächtig, unerschütterlich, ewig.‘

Ich riß Marianen an mich und wünschte, daß in diesem seligen Augenblicke ein jäher Tod unser Leben enden möge.“

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