Seite:Die Gartenlaube (1874) 812.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Beherrscher wieder entrissen; wohl brannte noch manche offene Wunde von Königgrätz; die unerquickliche Luxemburger Affaire füllte noch täglich die Spalten der Zeitungen, und auch in unseren Gesprächen spiegelte sich deutlich genug wieder, was die Herzen der Völker selbst bewegte, ja, schon wollte sich sogar dann und wann eine leise Mißstimmung unter uns zeigen, und sogar ein paar peinliche Pausen traten ein.

Namentlich verstimmt und empfindlich war der Däne, ein junger reizbarer Musiker, der nach Rom wollte, um alte Kirchenmusik zu studiren. Da plötzlich erhebt Einer von uns sein Glas – es war der Holländer, ein Philologe seines Berufs. „Kein Wort jetzt von Politik weiter!“ rief er; „kein Haß noch Hader mehr! Wir Alle sind Glieder einer einzigen großen Völkerfamilie; stoßen wir einträchtig an auf die Zukunft, auf eine Zeit, da all dieser kleinliche Haß und Hader längst vergessen und begraben ist, aber dafür wieder erwacht ein schönes, tiefes und starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Germanen, wodurch einst ein Werk entstehen möge, wie noch keines auf Erden war! – Stoßen wir an auf einen einzigen großen Germanenbund zu Schutz und Trutz!

„Ja, zu Schutz und Trutz,“ tönte es von anderer Seite, „sei’s denn gegen slavische oder romanische Völkermassen!“

Da war mit einem Male auch der letzte und leiseste Mißton unter uns verstummt. Wir Alle erhoben uns, klangen an mit den Gläsern und drückten einander in ahnungdurchschauerter Begeisterung warm und innig die Hand.

Es war eine Stunde, die mir unvergeßlich bleiben wird. Sieben Jahre verflossen seit jenem Abende. Unterdessen sind große Dinge geschehen: wir Deutschen sind ein Volk geworden, und nach langer schmachvoller Zeit steht unser Vaterland da, so stark und achtunggebietend nach außen, so frei und einig im Innern, wie nimmer zuvor, ja, und selbst in den Sympathien unserer germanischen Nachbarstämme und Brudervölker sehen wir schon eine Wandlung sich vollziehen, welche wir nur mit echter Herzensfreude begrüßen können. Zum Theile mag diese Wandlung allerdings noch sehr gering, ja kaum merkbar erscheinen, ihr Werden und Wachsen aber ist für jeden tiefer Schauenden ohne allen Zweifel und berechtigt zu den schönsten Hoffnungen. Diese Hoffnungen freilich beruhen aber zunächst auf uns selbst, auf dem unablässigen Schützen und gesunden Weiterbilden des so rasch und ruhmvoll Errungenen. –

In erster Reihe wohl steht Deutsch-Oesterreich mit seinen Sympathien zu uns. Aus keinem andern stammverwandten Volke scholl so früh, selbst noch in den Tagen unseres großen Kampfes und Siegeszuges der Jubel zu uns herüber; kein anderes reichte uns so innig die Bruderhand; in keinem schlagen die Herzen wärmer und begeisterter für uns, als im Volke an der „blauen Donau“. Das ist sicher, was auch ultramontane Blätter dort dagegen vorbringen mögen.

Freilich nicht ganz so erfreulich ist in dieser Hinsicht der Blick auf die Schweiz. Mag allerdings die größte Zahl der dortigen Gebildeten deutschen Blutes die Sache klaren Blickes schauen, wie sie liegt, einsehen, daß sie Deutschland als die stärkste Stütze ihrer Freiheit betrachten darf, mögen Manche darunter selbst mit warmem Herzen sich zu Kaiser und Reich halten, als Stammgenossen in vollem Maße unsere Freude über den großen Umschwung der Dinge theilen und nachfühlen – die große Menge verhält sich uns gegenüber entweder völlig gleichgültig oder ergeht sich wohl gar in offenbarem Neide und Grolle, da sie recht gut fühlt, daß der Abstand zwischen ihrer mit Recht gepriesenen republikanischen Freiheit und unserer constitutionellen von Tage zu Tage geringer wird. So klammert sie sich denn aus Mangel an großen Thaten der Gegenwart um so eifriger an die der Vergangenheit, und das Uebrige thut der alteingewurzelte, freilich grundlose Preußenhaß, der allerdings lange genug von den Süddeutschen redlich getheilt wurde.

Gern wollen wir den Schweizern die liebevolle Aufnahme der heruntergekommenen Soldaten des edlen Bourbaki als christliches Liebeswerk anrechnen: die empörenden Auftritte in Zürich aber, wo unter den Augen der Polizei und während die übrige Bevölkerung vollkommen gleichgültig blieb, mit brutaler Gewalt der Pöbel die Friedensfeier der Deutschen störte, obwohl sie ohne alle äußere Demonstrationen in einem geschlossenen Raume stattfand – nicht genug können solche Ereignisse als ein ebenso beklagenswerthes, wie verdammungswürdiges Zeichen der damals herrschenden Gesinnung bezeichnet werden. Erst in den letzten Zeiten können wir auch bei unseren Stammgenossen im Alpenlande eine entschiedene Wendung der Sympathien wahrnehmen, was vor Allem durch den gemeinsamen Kampf gegen den Ultramontanismus hervorgerufen wurde. Von noch größerer Bedeutung aber ist die Gesinnungswandelung, die wir im germanischen Norden von Europa beginnen sehen.

In keinem anderen Lande finden wir das altgermanische Blut so rein, so unvermischt und unberührt von fremden Elementen, als in den wogenumbrandeten und felsumstarrten drei Ländern, die wir in dem einen Namen Skandinavien zusammenfassen, und dennoch wurden französische Sympathien, sowie Groll, Neid und Abneigung gegen unser stammverwandtes Vaterland fast nirgends lebendiger unterhalten als dort. Von jenen drei Stämmen waren sicherlich die wackeren Norweger uns stets noch am meisten zugethan, im Gegensatze zu ihren schon in vieler Beziehung verschieden gearteten Nachbarn, den Schweden. Worin deren Abneigung gegen uns, sowie deren Sympathien für die Franzosen eigentlich begründet sind, mag ihnen vielleicht selbst nicht recht klar sein, denn schwerlich ist es doch zu glauben, daß sie noch heute an den Verlust Pommerns, Rügens oder des Herzogthums Bremen denken sollten, oder daß die Besetzung ihres Thrones durch eine Familie französischen Bluts auf das Volk eine so tiefe Einwirkung haben könnte. Sei es, wie es sei – sie nährten grundlosen vieljährigen Groll gegen uns, und ihre Zeitungspresse machte durchaus kein Hehl aus dieser Gesinnung, während wir Deutschen in unserer allumfassenden Empfänglichkeit fortfuhren auf’s Wohlwollendste uns für sie und für nordische Natur, Sitte, Sang und Sage zu interessiren. Dänemarks lebendiger Haß und Groll ist vielleicht noch jüngeren Datums, und wie er im Kampfe um Schleswig-Holstein zu mächtigen Flammen aufloderte, ist jedem Schulknaben bekannt. Es war nicht immer so. Als Klopstock den lebenden Königen auf dänischem Throne und den gestorbenen in Roeskilds Gräbern seine Oden sang, als Dänemarks Dichter, ein Baggesen und ein Oehlenschläger, bald in deutscher bald in dänischer Sprache dichteten, daß man kaum wußte, welcher Literatur sie in erster Linie angehörten, und wir wiederum Thorwaldsens classische Größe bewunderten, stolz darauf, daß auch in seinen Adern germanisches Blut floß, nachdem er sich voll Verehrung unserm Carstens, dem großen Bahnbrecher in der Kunst, zugeneigt hatte – in jenen Tagen wußten Deutschland und Dänemark wenig von Haß und Groll gegen einander, ein Gefühl, das die Gemüther dann so lange und tief erfüllen und aufregen sollte – bis auf die jüngsten Tage.

Die jüngsten Tage aber zeigen zu unsrer Freude, nicht nur in Skandinaviens Nordländern, sondern auch in dessen Süden eine wenn auch noch leise, aber doch zweifellose und fortschreitende Wandlung, ausgehend vom Throne und einem kleinen Häuflein Gebildeter, aber schon wahrnehmbar weitere und weitere Kreise berührend und bewegend.

Und endlich Holland.

So nah es uns liegt, so eng es mit uns verwandt ist, es wird doch nur selten von Reiselustigen besucht. Wenig wissen wir von seinen inneren politischen Strömungen und Richtungen, und in gleicher Weise auffallend gering ist unsre Kenntniß seines übrigen geistigen Lebens. Jeder gebildete Holländer kennt, liest und verehrt unsre großen Dichter und hervorragendsten Schriftsteller. Wer von uns kennt etwas von Hollands Literatur?

In jüngster Zeit begrüßten wir nun als schönen Beweis echt germanischen Sinnes ein Unternehmen eines holländischen Gelehrten, das wohl verdient bei uns bekannt und gewürdigt zu werden. Der Sprachforscher Johann Winkler zu Leeuwarden stellte sich nämlich die Aufgabe sämmtliche niederdeutsche und friesische Mundarten „von der Maas bis an die Memel“ zu sammeln und in seinem zu Gravenhage 1874 erschienenen zweibändigen Werke: Algemeen nederduitsch en friesch Dialecticon in gleicher stets sich wiederholender Probe übersichtlich neben einander zu stellen. Er wählte dazu ein biblisches Capitel im Lucasevangelium, die Geschichte vom verlorenen Sohne, und erließ über ganz Norddeutschland eine Menge eigenhändiger Briefe mit der Bitte um genaue Uebersetzung jenes Capitels in die Mundart der Heimath.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_812.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)