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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Zeit hörte ich Schritte vor dem Hause. Die Kranke hörte sie auch. Eine selige Verklärung flog über ihre Züge, und sie richtete sich auf. „Das ist Bodiwil,“ sagte sie und heftete die Augen auf die Thür.

Bodiwil trat ein und sank am Divan zusammen. Ich stützte ihn, bis er sich ermannt hatte. Dann verließ ich das Zimmer und setzte mich im Vorgemach nieder, nachdem ich die Thür hinter mir geschlossen.

Ich begann mich zu sammeln. Das also war das Geheimnißvolle in Bodiwil. Warum auch hatte ich nichts geahnt, wenn er einsam in der Rotunde saß und zu den Hügeln hinblickte, oder wenn er die Nebel mit dem Fernrohr zu durchdringen suchte! Wer aber war das Wesen, das hier verborgen lebte? Wie konnte Bodiwil sie besuchen, ohne daß man im Stifte Kenntniß davon bekam? Woran starb das Mädchen, und war es wirklich unrettbar?

Als die Frau, welche die Pflegerin der Kranken zu sein schien, nach einiger Zeit herein kam, fragte ich sie, worin des Fräuleins Krankheit bestehe.

„Sie hat das Sumpffieber, Herr, aber sie stirbt nicht eigentlich daran,“ sagte sie.

„Woran denn?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und sprach: „Ich kann Dir das jetzt nicht sagen, Herr. Es ist zu traurig.“

„Ihr habt doch einen Arzt gerufen?“ rief ich bestürzt.

„Der Arzt sagt, es sei dem Fräulein nicht zu helfen,“ erwiderte die Frau und verließ, in Thränen ausbrechend, das Zimmer.

Ich saß lange allein. Der Regen fiel noch immer; zuweilen schlug der Wind die Tropfen gegen die Fensterscheiben, und jedes Mal erschrak ich. Als es zu dämmern anfing, trat Bodiwil herein und sank in einen Sessel. „Wie ist es möglich!“ rief er. „Wie soll ich es ertragen?!“

„Ist ihr besser?“ fragte ich.

„Sie schläft; vielleicht erwacht sie nicht mehr,“ erwiderte er, und schwere Tropfen fielen aus seinen Augen.

„Muth, Bodiwil, Muth!“ sprach ich.

Es wurde dunkel in der Stube. Keiner von uns sprach; Keiner wagte dem Andern seine Gedanken zu sagen. Als später die Frau mit Licht herein kam, äußerte Bodiwil: „Lieber Freund, ich bitte Sie, diese Nacht und morgen, und vielleicht länger noch sich hier mit mir zu verbergen. Ich habe, um bei Mariana bleiben zu können, dem Prälaten gesagt, wir machten eine Excursion und kämen erst in zwei oder drei Tagen zurück.“

„Wie?“ fiel ich ein, „wird man es nicht seltsam finden, daß wir bei Regen eine Excursion unternehmen?“

„Seltsam oder nicht!“ versetzte Bodiwil. „Uebrigens ist man an mir allerlei Excentricitäten schon gewohnt.“

Mariana war erwacht und rief Bodiwil. Er ging zu ihr und ließ die Thür offen. Ich hörte Beide längere Zeit leise sprechen; dann rief mich Bodiwil. Eine Lampe brannte in einer Ecke des Zimmers. Mariana’s Züge schienen mir seltsam gespannt; ihr Auge hatte einen Blick, der mir durch die Seele schnitt – ich fühlte, daß der Tod im Zimmer war. Mit einer Stimme, süß und schaurig zugleich, sagte sie zu mir: „Ich vermache Ihnen meine Freundschaft für Bodiwil. Verlassen Sie ihn nicht, lieben Sie ihn und wachen Sie über ihn! Weil ich so frühe sterben muß, soll er um so länger leben. Machen Sie, daß er noch glücklich werde!“

Sie hatte langsam und mühsam gesprochen. Bodiwil knieete neben ihr. Ich gelobte ihr, Bodiwil zu lieben, ihn nicht zu verlassen und über ihm zu wachen. Dann verließ ich, meiner selbst kaum noch mächtig, das Sterbezimmer.

Gegen Mitternacht hörte ich einen dumpfen Schrei und einen Fall; ich eilte hinzu und fand Bodiwil besinnungslos neben Mariana’s Leiche an der Erde liegen.

Drei Tage später erhob sich im Tannengrunde hinter dem Hause ein Grabhügel. In die Rinde der ihm zu Häupten stehenden Tanne waren die Worte gegraben: Mariana Santorin.




Bodiwil und ich waren, nachdem wir Mariana in die Erde gelegt hatten, in’s Stift zurückgekehrt. Ich gab vor, er habe sich erkältet und einen Anfall von Sumpffieber, welches in der Gegend häufig ist.

Man ließ ihn ruhig auf seinem Zimmer. Ich war stets bei ihm. Der Prälat, welcher täglich zweimal nach ihm sah, verrieth weder durch Wort noch Blick, daß er von den Ereignissen und unserem Aufenthalte während der drei letzten Tage Kunde hatte. Ich erfuhr dies erst später. Er war ein Mann von etwa fünfundsechszig Jahren und hatte ein intelligentes und gemüthvolles Gesicht. Er flößte mir großes Vertrauen, große Verehrung ein. Dem Fieber Bodiwil’s scheinbar Glauben schenkend, brachte er aus der Hausapotheke die gegen das Fieber gebräuchlichen Mittel herauf und fragte besorgt nach Bodiwil’s Wünschen; mehr als einmal sah ich Thränen in seinen Augen stehen.

Bodiwil war wie ein still Wahnsinniger. Er verweigerte jede Speise, und wenn ich versuchte, ihm eindringlich zuzureden, so hielt er sich die Ohren zu oder trat an’s Piano und schlug laute, schreiende Accorde an, die meine Stimme übertönten. Nach einigen Tagen verlangte er auszugehen; ich begleitete ihn. Er schlug den Weg zum Tannengrunde ein. Als wir an Mariana’s Grab kamen, fanden wir ihren Hund, eine große braune Dogge, todt neben dem Hügel liegen.

„Hat dieser Hund mehr Schmerz empfunden als ich?“ rief Bodiwil ingrimmig aus. „Mariana! Mariana! Warum kann ich nicht sterben?“

Dann wandte er sich heftig zu mir und sagte: „Heinrich, wenn Sie das Geschöpf, das hier unten liegt, gekannt hätten, so würden Sie mich, der ich es schon um sechs Tage überlebt habe, für den stärksten oder auch für den erbärmlichsten Menschen halten.“ Er sank mit diesen Worten der Länge nach auf den Grabhügel, drückte seine Finger in das Erdreich und bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen. Er überließ sich einem Schmerzensausbruche, der mich entsetzte.

„Bodiwil,“ rief ich, „das Weib hier drunten ist mit männlicher Fassung gestorben, und Sie, ein Mann, haben nicht den Muth, das Leben mehr zu ertragen? Das Leben, welches sie mich gebeten hat Ihnen zu erhalten? Ihr Genie, Ihren Beruf – vergessen Sie Alles?“

„Mein Genie!“ rief er. „Als ob die Welt oder das Kloster es brauchten! Als ob ich es überhaupt noch besäße! Es ist in mir erloschen, langsam erloschen, da sie zu sterben anfing.“

Ich wollte ihm entgegnen; allein er fiel mir in’s Wort und sagte: „Kommen Sie mit mir in das Haus, in dem sie starb! Dort will ich Ihnen von ihr erzählen.“

Dieser Entschluß war mir erwünscht; ich dachte, die Mittheilung werde ihn erleichtern, ihm wohlthun.

Mariana’s Zimmer waren unberührt geblieben. Der Divan, auf welchem sie verschieden, stand noch vor dem Vorhange, welcher, ganz wie in Bodiwil’s Zimmer, die Wohnstube von dem Schlafcabinete trennte. Ein Theil des Vorhanges war zurückgeschlagen; ich sah Mariana’s Bett und über ihm Bodiwil’s Bild, in Oel gemalt. Dieses Bild war merkwürdig durch die Wahrheit des Ausdrucks, in welchem die ganze reiche und mächtige Individualität Bodiwil’s zu lesen war, und durch eine Durchsichtigkeit und Vergeistigung des Tons, wie ich sie nie in einem Portrait gesehen hatte.

Es war Bodiwil in einem jener Momente, wo, wie bei allen genialen Naturen, der ganze Inhalt seines Wesens aus den Schlupfwinkeln trat und dem Angesicht eine Zaubergewalt verlieh, die man „seelischen Magnetismus“ nennen könnte.

Das Bild war ein Meisterwerk, welches einen Maler hätte unsterblich machen können.

„Wer hat dieses Bild gemalt?“ fragte ich Bodiwil.

„Sie – Mariana,“ antwortete er.

Erstaunt blickte ich ihn an. „Aber wer war denn das wunderbare Geschöpf? Reden Sie!“ bat ich.

Bodiwil setzte sich neben den Divan und heftete seinen Blick auf das Kissen, wo Mariana’s Haupt gelegen hatte.

„Als ich,“ begann er, „ein zwölfjähriger Knabe, in’s Stift kam, war sie noch nicht geboren. Ein Jahr später wurde auf dem zwei Stunden von hier entfernten Gute des Herrn Santorin die Taufe eines Töchterchens gefeiert. Der Prälat und zwei Stiftsherren waren zur Taufe geladen und nahmen mich mit. Das Kind lag in einer mit hellblauer Seide ausgefütterten Korbwiege und schlief, als man es mir zeigte. Ich mußte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_800.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)