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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

die plastische Gestaltung des Einzelnen; aber es ist Feuer und Leben in diesen Bildern und dichterischer Zug und Schwung.

Auf ein kleines Juwel epischer Dichtung, welches erst neuerdings Meißner’s Muse zu Tage gefördert, möchte ich Sie aufmerksam machen, verehrte Frau; es ist das Gedicht „Werinherus“, dessen Held der Mönch aus Tegernsee, der muthmaßliche Verfasser des altdeutschen Gedichts „Meine Helmpracht“ ist. Der Gegensatz des freien und schönen Griechenthums gegen den dumpfen Mönchsgeist wird hier, nicht in weitschweifigen Betrachtungen, sondern in einer Reihe sinnreicher und lieblicher Bilder uns vorgeführt. Das ausgegrabene Venusbild, welches der Mönch gegen die Volkswuth schützt und dann in seiner Zelle aufstellt, wird seinem ganzen Leben verhängnißvoll; die Liebe, der er sich hingiebt, wie die Liebe, welche er zurückweist, führen ihn in schlimme Verwicklungen, in lange Klosterhaft, bis er zuletzt einsam unter seinen weißen Rosen in Tegernsee als Greis mit dem Silberhaare über die Irrungen des Lebens nachdenkt.

Auch als Dramatiker ist Alfred Meißner aufgetreten. Seine Dramen „das Weib des Urias“, „Reginald Armstrong“ und „der Prätendent von York“ sind, namentlich die beiden letzteren, in der Ausführung nicht so dichterisch glänzend, wie man es von Meißner’s reichem Talente erwarten durfte, aber der dramatische Entwurf ist geistreich, correct und bühnengewandt, und man hatte allen Grund, eine Kraft, wie diejenige Meißner’s, an die Bühne zu fesseln. Gleichwohl zog sich der Dichter nach diesen Versuchen wieder von ihr zurück. Es ist ja das Loos des deutschen Theaters, daß die reichsten Erfolge nur der Mittelmäßigkeit oder gar der auf den rohesten Effect speculirenden Routine zufallen, daß die echten Talente sich jeden Erfolg mühsam erkämpfen müssen, und bald, ermattet von dem Ringen mit den feindlichen Mächten der Bühne, sich wieder einer friedlicheren Wirksamkeit zuwenden. Es ist dies sehr bedauerlich, verehrte Frau, und wenn so oft von dem Verfalle des deutschen Theaters gesprochen wird, so kann man den Grund desselben hauptsächlich in der geringen Unterstützung suchen, welche hervorragende Talente bei dem Publicum finden.

Am bekanntesten in weiteren Kreisen ist Alfred Meißner durch seine größeren Romane geworden, ein Genre, dem er sich von Jahr zu Jahr mit immer größerer Hingebung zuwendete. Er hat es verstanden, dieses Genre nicht zu einem genre ennuyeux, dem einzig unerlaubten, zu machen. In der That, verehrte Frau, ein langweiliger Roman ist ein Gräuel vor dem Herrn zu nennen, denn auch der strengste ästhetische Richter, nicht allein das bloße Unterhaltungsbedürfniß müssen von einem Roman verlangen, daß er spannt und fesselt. Vielleicht steht der Roman nicht in einem ganz legitimen Verhältnisse zu den neun Musen; selbst Schiller wollte in dem Romandichter nur den Halbbruder des Dichters sehen. Doch gerade, was ihm an Berechtigung fehlt, muß er durch Liebenswürdigkeit ersetzen. Eine Ehefrau darf langweilig sein, eine Freundin nicht. Meißner hat aber viele Eigenschaften, die ihn befähigen, ein volksthümlicher und unterhaltender Romanschriftsteller zu sein; er hat eine reiche und lebendige Phantasie, eine Vorliebe für Situationen, die etwas auf der Spitze stehen, für das Packende, Nervenerschütternde, für effectvolle Ueberraschungen und tragische Ausgänge, für jenes Stoffartige, welches im Mysterienroman in Blüthe steht; aber alle diese Elemente werden durch künstlerische Behandlung ihrer Härte beraubt und in einen Guß verschmolzen mit dem geistig Bedeutsamen, das in dem Grundgedanken eines Kunstwerkes liegt.

Meißner hat in seinen ersten Gedichten und Romanen etwas, was an Lord Byron erinnert. Die Zipfel des Byron’schen Halstuches gehören bekanntlich zu den fashionablen Kennzeichen vieler neuen Dichter, welche durch diese flatternde Genialität sich dem großen Briten verwandt glauben. Meißner hat aber eine Byron’sche Ader; sein Don Juan in der „Sansara“, der Freiherr von Hostiwin, ist ein Held, der in seiner Physiognomie an viele Helden des britischen Dichters erinnert. „Sansara“ bedeutet bei den Indern das bunte Weltleben, im Gegensatze zur „Nirwana“, dem Versinken in das Nichts, wie es die großen Weisen des Ganges und der letzte Buddha lehrte, der an der Table d’hôte in Frankfurt am Main mit seinem geheimnißvollen Pudel saß. Meißner nannte seinen Roman „Sansara“, weil er uns in demselben die Wirren eines wildbewegten Lebens schildert, eine Welt der Liebesabenteuer, ein rastloses Streben nach Genuß. Später wird dieser Don Juan mit dem Lasso des ehelichen Glückes von einer Schönen eingefangen, welche ihn die Freuden edler Liebe kennen lehrt. Es ist dies eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Daß diese Don Juans mit ihrem unbegrenzten Streben nach Glück und Genuß sich auf einmal in ihren vier Pfählen so heimisch fühlen, daß sie nie wieder ihren früheren süßen Gelüsten verfallen: das ist doch wohl etwas „Neues“, welches dem Gange der Welt nicht entspricht, eine zu gewagte, zu wenig bestätigte Annahme, Doch der Dichter muß einen Strich machen unter die Vergangenheit, wie wäre sonst ein Abschluß möglich?

Das Hauptwerk Meißner’s ist der Doppelroman „Schwarzgelb“ und „Babel“, ein Roman voll von Geist und Leben, voll spannender, oft starker, ja greller Motive, bei welchen das Politische und Criminalrechtliche sich ablösen, trefflich in seiner ernsten und humoristischen Charakteristik, ein Zeitgemälde, welches die Geschicke seiner Helden und Heldinnen an die neuere Geschichte Oesterreichs knüpft: „Schwarzgelb“ an die Zeit nach der Revolution von 1848, „Babel“ an die Epoche des österreichisch-französischen Krieges, dessen Schilderungen, wie besonders die Schilderung der Schlacht von Magenta, einen wichtigen Theil des Werkes ausmachen. Herausgeschrieben ist der Roman aus der vollen Empfindung einer Zeit, welche, in heftigen Wehen begriffen, den Umsturz alter Ordnungen und die Neugestaltung der Zukunft mit augenblicklichem Wirrsale büßt. „Nicht nur unser Oesterreich,“ heißt es in „Babel“, „die ganze große im Umbau begriffene Welt ist ein Babel geworden. Uralte Mauern brechen zusammen; alte Götzen stürzen nieder; der Staub umwirbelt den Blick.“ Meißner’s Roman hat aber nicht, wie „die Ritter vom Geiste“, den nur leise angedeuteten Hintergrund eines bestimmten Staates; seine österreichische Localfarbe ist mit brennender Prägnanz aufgetragen. Solche alte Haudegen wie der General Greifenstein, solche liberale Salonschönen wie Leonie, deren Leben eine Kette von Abenteuern ist, Redacteure wie Schmey, welche industriellem Schwindel und ehelichen Privatspeculationen huldigen, selbst solche problematische Charaktere, wie der Major von Weyher, der großsprecherische Münchhausen, sind durchweg als eigenthümliche Producte des österreichischen socialen Lebens zu betrachten.

Es giebt frivole und unternehmungslustige Salondamen überall – Sie lächeln, verehrte Frau, denn Sie denken an unsere gemeinsame Bekannte, die einen ganzen Liebeskalender mit rothgedruckten Heiligen besitzt – aber diese Leonie Meißner’s ist jeder Zoll eine Oesterreicherin. Sie wissen, daß die Kunstgärtner durch das verschiedenartige Erdreich verschiedene Varietäten derselben Pflanze erziehen – und das verlangen wir auch von dem Dichter. Wir begleiten den Helden in mancherlei politische Verwickelungen und Cabinetsintriguen; wir stoßen auf die Portraits österreichischer Staatsmänner, doch ohne Unterschrift; wir machen selbst die persönliche Bekanntschaft des geheimnißvollen Mannes aus den Tuilerien, dessen Nimbus in letzter Zeit so rasch verblichen ist. Doch auch poetische Erscheinungen wie Cornelia fesseln uns; die criminellen Katastrophen, die dunklen Punkte der Handlung erhellen sich allmählich und halten lange unsere Spannung auf die Lösung wach; sie selbst sind mit der keck zugreifenden Derbheit der Mysterienromane geschildert.

Auch alle anderen Romane und Erzählungen Meißner’s, verehrte Freundin, haben den gleichen Vorzug der frischen Schilderung, des Phantasiereichthums und der geistigen Perspectiven. Hierzu kommt, daß sie in einem klaren, lebendigen Styl geschrieben sind, welcher frei von jeder falschen Vornehmheit und gezierter Manier ist. Frisch und frei zu schreiben, wie man denkt und spricht, ohne an den Worten herumzukünsteln: das ist ein großes Verdienst in einer Zeit, in welcher viele Autoren glauben, sie müßten, um sich von dem Jargon des Pöbels zu unterscheiden, sich eine ganz besondere Zigeunersprache der Classicität zurecht machen. Wir lieben, verehrte Freundin, was sich natürlich giebt, und echte Begeisterung ist stets eine Tochter der unverfälschten Natur und spendet ihren Auserwählten den Pfingstgeist von selbst.




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