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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Vorzügen oder Tugenden etwas zu wissen; so gut wir einen Andern nicht ausstehen können, und wenn er der bravste Mann wäre, wie ihn Bürger mit Orgelton und Glockenklang feiert: ebenso ergeht es uns mit den Dichtern. Es giebt Unsterbliche, die uns abstoßend langweilig und ungenießbar sind, denen gegenüber wir mit Mühe und nur aus Rücksichten auf ihren hohen Rang ein Gähnen unterdrücken; es giebt Sterbliche, die im höchsten Grade sterblich sind, die nur von heute bis morgen leben und die auf uns eine ebenso anziehende wie fesselnde Wirkung ausüben. Und die vornehme Dame Kritik sollte von diesen Neigungen und Abneigungen unberührt bleiben? O nein, verehrte Frau! Sympathie ist der geheime Grund aller Kritik. Es gehört das mit zur Philosophie des Unbewußten. Was im Lichte des Bewußtseins klar und logisch bewiesen wird, das hat seinen tieferen Grund in dem geheimen Magnetismus der Seelen. Eine Zeitlang war es Mode, die Frage aufzustellen, ob Goethe oder Schiller ein größerer Dichter sei. Viele Kritiker haben sich für den einen oder den andern entschieden; sie haben diese Entscheidung sehr beweiskräftig zu begründen gesucht, und doch ging ihre Ueberzeugung jedem Beweise voraus und war unabhängig von allen logischen Schlußfolgerungen; es war Allen die innerste Sympathie, die sie zu dem einen oder dem andern zog und von der dasselbe gilt, was Schiller von der Liebe singt:

Das ist der Liebe heil’ger Götterstrahl,
Der in die Seele schlägt und trifft und zündet;
Wenn sich Verwandtes zum Verwandten findet,
Da ist kein Widerstand und keine Wahl.

Diese Sympathie kann, wie wir es bei manchen Bewunderern Shakespeare’s sehen, eine so gefährliche Alleinherrschaft gewinnen, daß sie außer ihrem Lieblingsdichter nichts zwischen Himmel und Erde gelten läßt, daß sie bei jedem Tadel desselben in Wuthausbrüche verfällt; ja, es giebt nicht nur gewöhnliche Sterbliche, sondern selbst Schriftsteller, die sich in einen gefeierten Dichter so hineinleben, daß sie die Welt nur mit seinen Augen ansehen, nur in seinen Versen empfinden, in seinen Sentenzen denken. Man könnte an eine Seelenwanderung glauben – nur daß der Geist des unsterblichen Ahnherrn durch diese Lebensläufe in absteigender Linie geschädigt wird. Wie viele Dichter und Kritiker gehen in Shakespeare ohne Rest auf – und wie viele Abdrücke des britischen Dichters, selbst auf Packpapier und Löschpapier, giebt es in unserer literaturhistorischen Curiositätensammlung!

Aus Gerechtigkeitsgefühl, verehrte Frau, habe ich oft gelobt, was mir persönlich gar nicht behagte, wenn es mir in seiner Art gut und trefflich erschien, und habe auch den sauersüßen Ton zu vermeiden gesucht, der bei solchen Huldigungen aus Gewissenhaftigkeit sich nur zu leicht einstellt. Doch etwas sonorer klingt immer ein Lob, das aus voller Sympathie gespendet wird, und ich will Sie heute an einen Dichter erinnern, dem ich diese Sympathie stets entgegengebracht habe und der auch Ihnen kein Fremdling ist.

Alfred Meißner hat seine „Gesammelten Werke“ in achtzehn Bänden (Leipzig, F. W. Grunow) erscheinen lassen und so eine stattliche Summe langjähriger literarischer Thätigkeit dem Publicum vorgelegt. Es ist ein eigenthümliches Zeichen der Zeit, daß unsere Dichter in ihren besten Jahren bereits solche Gesammtausgaben erscheinen lassen; früher waren dies in der Regel Ausgaben letzter Hand. Auch Paul Heyse, der zehn Jahre jünger ist, als Alfred Meißner, hat bereits seine „Sämmtlichen Werke“ herausgegeben. Productive Schriftsteller, bei denen Erfolge und Mißerfolge bunt durcheinandergehen, fühlen das Bedürfniß in einer raschlebenden Zeit, wo oft nur der letzte Eindruck haftet, sich in ihrem gesammten Wirken der Nation vorzustellen. Eine Summe dichterischer Leistungen fällt ganz anders in’s Gewicht, als ein vorübergehender Erfolg, der oft nur eine aus dem Glückslotto gezogene Nummer ist. Wie viele solche literarische Eintagsfliegen hat der aufmerksame Beobachter im Sonnenscheine flattern und zerflattern sehen!

Alfred Meißner begann als Lyriker, hat aber später als Dramatiker und Romandichter eine vielseitige Thätigkeit entwickelt. Man pflegte ihn längere Zeit mit dem jüngstverstorbenen Moritz Hartmann zusammenzustellen. Beide waren in Böhmen geboren, und hielten sich in Leipzig auf, wo sie die ersten Gedichtsammlungen erscheinen ließen. Und in ihren Gedichten war bei allem Freisinne ein gewisses böhmisches Colorit unverkennbar. Damals schwärmte man für alle Nationalitäten, die in irgend einer Weise unterdrückt schienen oder die Rolle der unterdrückten spielten; mit den Czechen von heute hat man in Deutschland so wenig Sympathien, daß man sich auch für ihre Nationalhelden von früher nicht mehr begeistern kann, und wenn ein Dichter die Trommel Ziska’s heute rühren wollte, so würden wir nur die Trommelwirbel zu hören glauben, mit denen die czechische Reaction ihre Getreuen gegen das Deutschthum und die Freiheit zu den Waffen ruft. Damals aber klang uns „Kelch und Schwert“ sehr romantisch, als ein Symbol der Völkerbefreiung, und wir lauschten mit Andacht der poetischen Kunde der Heldenthaten, welche Ziska mit seinem eisernen Streitkolben vollbracht hat.

Alfred Meißner’s Muse hat einen schwermüthigen Zug; sie liebt die Felseneinsamkeit auf hohen Bergen, in tiefen Schluchten, mit rauschenden Tannenwäldern, und selbst wenn sie auf der stillen See im Abendstrahle ein weißes Segel ziehen sieht, so fühlt sie ein leises Weh durch ihr Gemüth gleiten. In dem tiefen felsumschlossenen Thale, wo die Tannen an den Wänden schauern und der Bergstrom in die Schlucht tost, fühlt der Dichter die Qual hoffnungsloser Liebe, und mitten in dem schroffen, gezackten Felsgebirge, in der Urwüste der Welt ruft er aus:

Hier lerne, wie klein eines Menschen Weh’n,
Hier lerne jauchzen und untergehn!

Dabei trat er auf als Anwalt der Armen und Unterdrückten und hatte eine besondere Vorliebe für die verlorenen Sünderinnen; doch sein Pathos hatte etwas Seelenvolles, eine anziehende und hinreißende Gemüthswärme.

Man hat Meißner oft einen Reflexionspoeten genannt; Sie wissen, verehrte Frau, was es mit solchen Bezeichnungen auf sich hat. Viele wollen, daß die Dichtung gar keine Gedanken zum Ausdrucke bringe, sondern nur in musikalischen Stimmungen dahinschwebe, etwa wie Elfengeister im Mondenscheine. Das ist berechtigt für das Lied, aber nicht für die höheren Gattungen der Lyrik. Alle wahrhaft großen Dichter von Pindar bis zu Schiller und Byron sind gedankenreich gewesen, und ihre Größe besteht eben darin, daß sie dauernden Gedanken die dauernde Form gegeben haben.

Das gefällt freilich vielen Dichterlingen nicht, welche den berechtigten Wunsch hegen, unsterblich zu werden, denen es aber zur Erfüllung dieses so weitverbreiteten Wunsches an dem nöthigen Fonds fehlt. Da ist der sehr gelehrte Professor in Ihrer Kreis- und Gymnasialstadt, der fortwährend in des Knaben Wunderhorn tutet und in deutschen Schulstunden seinen Zöglingen auseinandersetzt, wie man sich in der Dichtung vor Gedanken und Reflexionen hüten müsse, eine Warnung, welcher er selbst so gewissenhaft wie möglich nachkommt. Der dicke Herr leidet an einem fortwährenden lyrischen Asthma, wenn er dichtet; es ist ein beständiges Seufzen und Athemholen. Schreibt er aber eine Ballade, so fehlt Schön-Ellen und Jung-Walter nicht und das beliebte Hopp, hopp! In einem kurzen Verse von zwei Zeilen wird eine innige Liebe abgehandelt, im zweiten ein Ritt bei Mondscheine, im dritten bricht man den Hals oder geräth in die Sümpfe und die Arme der Nixen – das ist der kurzathmige Balladenstyl und gegen ein solches Meisterwerk erscheinen natürlich Schiller’s „gedehnte und schleppende“ Balladen als mißlungene Experimente.

Oder denken Sie an Ihre liebenswürdige Nachbarin, das sentimentale Schloßfräulein, das, der Farbenharmonie zum Trotz, stets in Blau und Grün geht, wie ein Veilchen und Vergißmeinnicht, und jeden Tag einen Strauß der duftigsten Albumsverse pflückt. Da ist alles Glaube, Liebe, Hoffnung; alles quillt so warm aus der Seele heraus; nichts als Empfindung, gestaltlose, nicht greifbare Empfindung, eine Gedankenlosigkeit, wie sie der Gymnasialprofessor nicht vollendeter sich wünschen könnte.

Sie sehen, wie hoch ein Reflexionspoet wie Meißner zu schätzen ist! Freilich, Gedanken ohne Gestaltung wären nicht viel besser; doch Meißner hat in seinen epischen Dichtungen bewiesen, daß er auch ein tüchtiges Gestaltungsvermögen besitzt. Zwar in seinem „Ziska“ wallen und wogen die Bilder oft wie dissolving views durcheinander; es sind eben große Massenbewegungen, von denen sich die düstere Gestalt des Helden abhebt; die stimmungsvolle Beleuchtung durch den Gedanken überwiegt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_773.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)