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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

mehrfach auf’s Haupt geschlagenen persischen Fürsten, der vordem Jerusalem erobert und geplündert hatte, gegen Rückgabe des Kreuzes Christi und ähnlicher Reliquien alle und jede Kriegsentschädigung und Buße. Einige Beispiele historisch verbürgter Preise geben den besten Maßstab für den Grad der herrschenden Verblendung. Kanut von England zahlte für einen armseligen Arm des heiligen Augustin, der nicht einmal Märtyrer war, hundert Talente Silber; Heinrich dem Löwen, der auf seinem Kreuzzuge einen Daumen des heiligen Markus erbeutet hatte, bot die Republik Venedig vergeblich für diese ihr besonders theure Reliquie eine halbe Million Thaler; Ludwig der Heilige hielt die Kosten seiner sehr unglücklichen Kreuzfahrt reichlich durch die erworbenen Reliquienschätze bezahlt. Es glückte ihm obendrein, die Dornenkrone zu erlangen, welche der byzantinische Hof für 15,000 Goldstücke an einen venetianischen Kaufmann verpfändet hatte und nicht wieder einlösen konnte, wofür Ludwig noch dem Kaiser Balduin 10,000 Mark Silber Entschädigung gab. Niemand war glücklicher als der fromme König von Frankreich, der dem seltenen Schatze barfuß entgegen zog und ihn selbst in seine Hauptstadt hineintrug. Man kann sich denken, wie viele Heilige damals gegründet wurden, und berechnen, was ein wohlgeleitetes Altknochen- und Lumpengeschäft einbringen konnte. Die Reformation veranlaßte den „Krach“ dieses Kirchengeschäfts; man erzählt, daß ein englisches Kloster schon unter Heinrich des Achten Regierung einen um 40 Pfund versetzten Finger des heiligen Andreas nicht habe einlösen wollen.

Zur einträglichen Ausbeutung der Reliquien-Tollheit gehörte in jenen Zeiten nichts weiter als eine zureichende Kenntniß der Kirchengeschichte und solide Geschäftsverbindungen im Morgenlande. Die Waare selbst war am Ende an jedem Orte zu finden. Kein Galgen war damals vor einer Plünderung sicher, und selbst einem heiligen Martinus von Tours – heutzutage selber ein großer Heiliger – konnte es zustoßen, daß sein Geschäftsfreund auf dem Todtenbette bekannte, ihm das betrübte Beingerüst eines armen Sünders als Heiligen-Reliquie verschachert zu haben. Andern erging es vielleicht noch schlechter, insofern sie zuletzt erfuhren, ihre inbrünstigen Gebete jahrelang an die unheiligen Knochen irgend einer Bestie vom Schindanger gerichtet zu haben.

Nicht ohne schmerzliches Bedauern standen die Reliquienhändler vor den beiden Gräbern der Maria, die sich glücklicherweise in den Himmel gerettet hatte, zu Ephesus und Jerusalem, wenigstens aber legte man auf ihre Locken und auf ihre sämmtlichen Kleider als Andenken Beschlag; ihren Gürtel, welcher außer an vielen andern Orten auch in Aachen vorhanden ist, soll sie im Entschweben dem heiligen Thomas in den Schooß geworfen haben. Falsche Haare sind heute nichts Seltenes, aber so viel verschiedenfarbige Zöpfe und Locken, wie die Maria ihren Verehrern hinterlassen hat, kann kaum die wohlassortirte Perrückenkammer einer Schauspielerin aufweisen. Die Aachener sind meistens blond.

Christus hat außer vielen Blutspuren mehrere Nabel und – damit die Schwindeleien der Geistlichen nicht aus unangebrachter Scham verschwiegen werden – auch mehrmals dasjenige hinterlassen, wofür er seinen Taufnamen eingetauscht hat. Man entblödete sich nicht, diese letztere Reliquie an fünf verschiedenen Orten der Verehrung der Gläubigen auszustellen, und thut es bis auf den heutigen Tag. Die Windeln Christi, welche über die Welt zerstreut sind, zählen nach vielen Dutzenden. Die Aachener bestehen aus einem braunen Wollengewebe und sollen nach alter Tradition aus den Hosen oder Strümpfen des heiligen Joseph gefertigt sein. Ebenso verhält es sich mit Christi Schweißtuch und Gürtel; selbst der ungenähte Rock ist in mehreren Exemplaren vorhanden. Die Marterwerkzeuge, die Dornenkrone, die Nägel, der Schwamm, das Rohr, die Lanze sind so oft gefunden worden, wie man sich nach ihrem Besitze gesehnt hat, und an jedem Stücke kleben einige eingetrocknete Tropfen des kostbaren für die Menschheit vergossenen Blutes. Es sind nach Bestellung gefertigte Waaren, gegen die man höchstens einwenden kann, daß Schnitt und Styl nicht immer richtig getroffen sind.

Interessanter ist der Fall bei den mehrfach vorhandenen Köpfen, Gliedern oder ganzen Skeleten eines und desselben Märtyrers, die sich dann gegenseitig ihre Unechtheit vorwerfen. Allerdings mag der Streit meistens unnütz sein, denn in der Regel sind sie alle unecht. Gleichwohl müssen sie verehrt werden, denn das Concil von Trient hat (1563) gegen alle Diejenigen, die ihnen nicht die schuldige Verehrung erweisen, den Fluch der Kirche geschleudert. Zugleich hat die Kirche wiederholt die Möglichkeit öfteren Betruges zugestanden, aber zugleich einen erheblichen Schaden derartiger Vorkommnisse geleugnet, da es bei der Verehrung weniger auf Echtheit der Reliquie als auf Echtheit des Glaubens ankomme. Selbst die mehrfache Ausstellung derselben Reliquie hat sie niemals anstößig gefunden, denn einmal könne man nicht wissen, welches die echte sei, und andererseits könne sich eine Reliquie, welche Wunder wirke, auch zur Bequemlichkeit der Gläubigen vervielfältigt haben, oder durch ein Wunder Gottes vervielfältigt worden sein. Es ist leicht einzusehen, daß mit solchen Zugeständnissen die Betrügerei geradezu autorisirt wurde. Schließlich hat sich ein ansehnlicher Theil des Clerus selber dieses einträglichen Geschäftes bemächtigt.

Den Anfang mag der Handel mit Kreuzpartikeln und dem Feilstaub der in Rom verwahrten Kette des heiligen Petrus gemacht haben. Man schloß den letzteren in die Höhlung von silbernen, kupfernen oder eisernen Schlüsseln ein, welche der Papst als kostbares Geschenk, sozusagen als Himmelsschlüssel austheilte. Die Nägel vom heiligen Kreuz wurden vervielfältigt, indem man nach einem der angeblich echten Exemplare gefertigte Copieen mit jenem bestrich, wobei die geheimnißvolle Kraft des ersteren wie der Magnetismus übergehend gedacht wurde, ohne daß in jenem die Stärke dadurch vermindert wurde. Man erzählt, daß der heilige Borromäus den angeblich echten Mailänder Nagel auf diese Weise verachtfacht habe, und kann sich sonach nicht wundern, daß die drei oder vier Nägel, welche Helena mitgebracht haben soll, eine zahlreiche Nachkommenschaft gehabt haben.

Aber auch auf andere Gegenstände wurde diese Heiligung durch Berührung zugestandenermaßen häufig angewendet. Wenn man einmal zugab, daß in die Windeln oder den Rock eines Heiligen etwas von der Kraft desselben, Wunder zu thun, eingezogen sein konnte, so mußte dies auch geschehen können, wenn man ein gewöhnliches Tuch kurze Zeit über die wunderthätigen Heiligengebeine ausbreitete. Wir haben das Zeugniß Papst Gregor des Großen, eines der ersten Kirchenlichter, daß dieser Gebrauch schon im sechsten Jahrhundert in Rom bestand. Er antwortet nämlich einer Fürstin, die ihn um das Haupt des vorgeblich in Rom begrabenen Apostel Paulus gebeten hatte, in einem noch erhaltenen Briefe, daß man wahre Märtyrergebeine nicht erheben könne, da Donner und Blitz, Krankheiten und plötzlicher Tod Jeden träfen, der sie zu berühren wage. Alle transportirbaren und aus der Ferne hergebrachten Reliquien seien nach seiner Meinung falsche. In Rom habe man deshalb den Gebrauch angenommen, etwas in einer Büchse eingeschlossenes Leinenzeug den Märtyrergebeinen zu nähern, was ungestraft geschehen könne, und dieses Leinenzeug sodann zu versenden. Es erlange durch die Berührung dieselben Kräfte wie die Reliquien selber und verrichte dieselben Wunder. Als einige Griechen dies bezweifelt hätten, da habe der Papst Leo eine Scheere bringen lassen und in derartiges heiliges Leinenzeug hineingeschnitten. Es sei sogleich Blut herausgeflossen. Man ersieht hieraus, wie früh bereits die römische Reliquienfabrikation die Sanction der Nachfolger Petri erhielt, und sie hat seitdem das Geschäft mit ungeschwächten Kräften, soweit es der Absatz gestattete, fortgesetzt. Vor zwei Jahren wurde ein solcher römischer Reliquienfabrikant, der es gar zu arg getrieben, vor die Gerichte gefordert. Nicht nur, wie der Ablaßkrämer in Chaucer’s Canterbury-Geschichten:

Macht’ er den Schleier, den Maria trug,
Aus eines alten Bettbezuges Resten,

sondern er fabricirte auch ganze Märtyrer, die das den echten versagte Vermögen, auf der Eisenbahn zu reisen, vertragen konnten. Warum sollte auch ein schneeweiß gebleichtes und von allen sündhaften Fleischresten kunstvoll befreites Armsünder-Gebein, wenn es ordentlich in einer Kirche eingesegnet und auf den Namen dessen, den es vorstellen soll, getauft wird, nicht ebenso gut und per procura Wunder thun können, wie der wahre Jakob?

Die Echtheit der Reliquien wird im Allgemeinen selten oder nie durch Documente, Inschriften, Siegel und dergleichen fälschbare Zeugnisse bewiesen, sondern immer nur durch die Wunder, welche sie bewirken. Man erkennt das Grabmal eines Heiligen nicht an dem Epitaph oder an Inschriften, sondern an den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 761. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_761.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)