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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

noch besser. Vielleicht war es eben nur zum Scheine, daß er erklärte, vor morgen Mittag würde er nicht wieder kommen. Als ich den Arzt an den Wagen begleitete, erhob sich gerade der Vollmond, und das Licht der Mondscheibe strahlte golden durch die Pappeln vor dem Hofe.

Der Vollmond! Mir schien er als ein gewisser Todesbote. Zu oft hatte ich in den heißen Zonen seinen Einfluß auf Kranke und Sterbende beobachtet und der Himmel über uns war heute im hohen Norden klar und duftig, wie der Himmel in den Wendekreisen. Ich zwang mich zu hoffen und griff nur in die Hoffnungslosigkeit hinein. Was ich ersehnte, war ein umwölkter Himmel. Ich berechnete angstvoll die Stunde, wo das Mondlicht ganz und voll auf die Fenster des Krankenzimmers fallen würde. Das mußte gegen vier Uhr Morgens sein, wo der Mond dem Untergehen nahe war.

Bis Mitternacht lag die Kranke in einem verhältnißmäßig ruhigen Schlummer. Meine ganze Umgebung war freudiger gestimmt worden, ja verspottete meinen „Mondglauben“, wie sie es nannten. Nur ich blieb düster und blickte mit ohnmächtigem Grimme in die volle Mondscheibe. – Um Mitternacht – der Mond hatte seinen Höhepunkt erreicht – begann meine Frau irre zu reden. Ein Knecht wurde zu Pferd nach dem Arzte geschickt, der ihr eine leichte Dosis Opium verordnete. Die Medicin blieb wirkungslos.

Jetzt änderte sich das düstere Bild plötzlich, aber nur um noch düsterer zu werden: ein Gewitter zog herauf. Dasselbe Gewitter, welches in der Nacht vom 24. auf den 25. September über Schwerin und Hamburg so furchtbar tobte, daß die ältesten Leute sich eines ähnlichen nicht zu entsinnen vermochten. Ueber unsern Häuptern Blitz und Donner und schwarze Wetterwolken, am westlichen Horizonte der klarste Himmel und die sanft und ruhig sinkende Mondscheibe. Auf dem Gute ward Alles lebendig. Die Pferde wurden, wie es auf dem Lande bei Gewittern Gebrauch, angeschirrt, die Ställe geöffnet; in allen Zimmern wurde Licht angezündet. So stand ich am Sterbelager meiner Helene. Draußen das furchtbare Rollen des Donners, ein Feuermeer von violetten Blitzen und ein wolkenbruchartiger Platzregen, den der Sturm schwer gegen die Fenster des Sterbezimmers schleuderte. Dazwischen der laute Klageruf einer Nachteule – der Gesang des Todtenvogels, wie der Aberglaube behauptet. Im Zimmer aber das matte, bewußtlose Stöhnen meines Weibes.

Ich legte der Sterbenden die Hand auf die feuchte Stirn und sprach sanft:

„Schlafe, Helene – ich will es.“

Als ob das arme Wesen mich verstünde, hörten die Sterbeseufzer auf, und ein regelmäßiges Athemholen trat an die Stelle. Ich warf einen Blick nach außen. Immer tiefer sank der Mond; in einer Stunde mußte er unter der Horizontlinie sein. Der Donner wurde schwächer; das Gewitter nahm von uns mit einem majestätischen Wetterleuchten Abschied. Helene schlief sanft und fest.

Meine Kräfte, meine Willenskraft waren erschöpft. Die Natur mußte sich Luft machen in einem Thränenstrome. Das durfte im Krankenzimmer nicht sein; ich schlich mich hinunter, warf mich auf das Sopha und fiel vor Erschöpfung selber in einen festen Schlaf.

Plötzlich erwachte ich. Die Schwestern meiner Frau standen vor mir. Ich fuhr in die Höhe.

„Schläft Helene?“ rief ich.

„Ja, sie schläft,“ war die Antwort. „Gönnen Sie sich auch Ruhe!“

„Schläft sie fest?“ stammelte ich.

„Ganz fest.“

Man wandte sich ab.

„Todt?“ schrie ich.

„Ja, sie ist sanft entschlafen.“ – –

Ich stand an der Leiche meines geliebten Weibes. Der Mond sank unter den Horizont hinab; ein schwacher, schwacher ferner Donner gab das Requiem und –

„Nessun’ maggior dolor
Che ricordarsi de tempi felice
Nella miseria“
*[1]

war das Sterbegebet, welches ich, der „Hölle des Dante“ entlehnend, sprach.

Der Tag nach dem Gewitter war grau und düster wie ein Decembernebeltag. Nur Eins lächelte, und das waren die Leichenzüge meines todten Weibes. Nach einem sturmbewegten Leben hatte ich zehn Monate des Friedens an ihrer Seite gefunden, und nun – todt! – Es lagen noch drei Briefe von mir uneröffnet im Sterbezimmer, drei freundliche, glückstrahlende Briefe, welche zu spät gekommen waren, um gelesen werden zu können. Ich schob sie heimlich der Todten in den Sarg, den Aberglauben, daß „die Todten nachziehen“, trotzig herausfordernd. Meine Briefe sind mitbegraben worden. Nous verrons.

Am Sonntage war die Beerdigung auf dem Kirchhofe des Städtchens W. Ich hatte jedes Gefolge verbeten. Nur die Familie und ich erwiesen der Dahingeschiedenen die letzte Ehre. Wir waren allein an der Trauerstätte. Der Sarg ward in die Gruft gesenkt. Die Träger brachten einen zweiten, kleinen Sarg. Das todte Kind war wieder ausgescharrt worden, um mit der todten Mutter in einem Grabe zu schlummern. Ich blieb am Grabe, bis die letzte Scholle Erde den letzten Theil der beiden Särge bedeckte.

Schlaf wohl, meine Helene! Ich war zu glücklich, denn ich hatte mehr als Glück, ich hatte – den Frieden gefunden.

„Nessun’ maggior dolor
Che ricordarsi de tempi felice
Nella miseria“

W. M–r.
  1. * Es giebt keinen größern Schmerz, als sich der glücklichen Zeiten im Elend zu erinnern.




Die Aachener Reliquien.
Von Carus Sterne.
II.

Am Ende des vierten Jahrhunderts war der kurze Kampf von Staat und Kirche gegen die Vielgötterei, welche mit den Märtyrer-Reliquien eingeführt worden war, aufgegeben, und das Heidenthum begann unter andern Formen und Namen wieder aufzuleben. Noch im Jahre 386 hatte Kaiser Theodosius streng verboten, die Ruhe der Märtyrer zu stören, ihre Ueberreste an andere Orte zu bringen, sie zu theilen oder gar Handel damit zu treiben, aber elf Jahre später verordnete schon das Concil von Carthago, auf eine Stelle des sechsten Capitels der Offenbarung Johannis (!) fußend, daß die Altäre der Kirche durch darauf niedergelegte Reliquien zu heiligen seien. Dieser Gebrauch wurde darauf als so unumgänglich erkannt, daß der heilige Ambrosius sich trotz der Bitten des Volkes weigerte, eine Kirche einzuweihen, die keine Reliquien aufzeigen konnte, und das Concil von Constantinopel (692) die Zerstörung aller Altäre anordnete, unter denen sich keine Reliquien befänden. „Es liegt eine eigene tragische Ironie darin,“ sagt Karl Hase, „daß jene Märtyrer, die sich selbst geopfert haben, um nicht falschen Göttern zu opfern, gerade die Ahnherren der Heiligen geworden sind, denen wiederum neben dem wahrhaftigen Gotte Altäre errichtet und Weihrauchfässer geschwenkt werden.“

Die Sammelwuth der Reliquien stieg von jener Zeit bis in die Kreuzzüge hinein und artete bei einzelnen Kirchenpatronen zu einer wahren Narrheit aus, sofern ihr ganzer Ehrgeiz darauf hinausging, die kostbarsten Reliquien zu besitzen, sie um jeden Preis zu kaufen und andern Liebhabern dabei zuvorzukommen oder ihr Angebot zu überbieten. Die unscheinbarsten, oft ekelhaft aussehenden Gegenstände wurden so zu einer der begehrtesten Handelswaaren und zu dem Objecte gewinnsüchtiger Speculationen. Man hat mehrere Beispiele, daß die Belagerung wichtiger Festungen um eine von den Eingeschlossenen dargebotene Reliquie aufgehoben wurde, und der Kaiser Heraklius erließ dem von ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_760.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2018)