Seite:Die Gartenlaube (1874) 759.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

eine wirkliche Gefahr schließen lassen konnte. Inzwischen hatte ich selbst zurücktelegraphirt:

„Ist Gefahr? Soll ich kommen?“

Am Abend desselben Tages erhielt ich gleichzeitig mit einer schon vom Montag datirten Correspondenzkarte von meiner Frau, auf welcher sie mir einige freundliche Worte sandte, aber verschwieg, daß die Katastrophe sich bereits ankündige, die Antwort auf meine Anfrage:

„Helene fürchtet Aufregung, wenn Sie kommen. Brieflich Näheres.“

Ich war beruhigt. Meine Frau lebte, disponirte mit klarem Verstande. Ich hatte mich unnöthiger Weise beängstigt. Das Kind freilich war todt, doch die Wahl zwischen Frau und Kind fällt in solchen Augenblicken nicht schwer. Meine Helene lebte, das war Alles für mich. Die nächste Nacht verstrich mir schlaflos – aber ich philosophirte mich in die neue Situation hinein. „Sind Dir die Vaterfreuden nicht beschieden, so schließe Dich um so inniger an Dein Weib an! Zur Tagesordnung!“ tönte es entschlossen in meinem Innern. Sie kam, die „Tagesordnung“. Am Mittwoch, 23. September, zwölf Uhr Mittags, schrillte die Klingel abermals:

„Helene in Gefahr, kommen Sie bald!“

lautete das Telegramm. Hatte sich mein erster Schreck und meine Angst am Tage zuvor in Thränen Luft gemacht, so waren jetzt meine Augen trocken und fieberheiß. Der Gedanke an den Tod eines Wesens, das mir mehr war als mein eigenes Dasein, machte mich erbeben. Ich mußte diesem Tode in’s Antlitz starren, und das furchtbare „Muß“ erstickte selbst den lindernden lauten Ausbruch des Schmerzes. Wie betäubt ging ich zum Bahnhofe. Ich signalisirte meine Ankunft per Draht und bestellte mir ein Fuhrwerk für Nachts drei Uhr auf die Eisenbahnstation von H., denn das Gut, wo meine Frau im Sterben lag, befand sich noch drei Meilen weit landeinwärts von dieser Station.

Gegen drei Uhr Nachmittags fuhr ich fort. Ueber Halle und Berlin. Ein Umweg von zehn Meilen, der aber den Vortheil hatte, daß ich unterwegs nicht auf die correspondirenden Züge zu warten brauchte.

Es war ein wunderbar schöner Spätsommerabend, schön sogar in der trostlos flachen Gegend zwischen Saale und Elbe. Der Mond stand majestätisch am Himmel. Ich erschrak bei seinem Anblicke. Morgen war es Vollmond, und ich kannte aus meinen Reisen in den Tropenzonen den Einfluß des Mondes auf Kranke und Sterbende – dieser Sommerabend war fast so lau und warm, wie die Tropen. Umsonst rief ich alle Skepsis zu Hülfe. Umsonst sagte ich mir: Du erzeigst dem armen Monde in unsern nordischen Breitegraden zu viel Ehre. Der Gedanke, daß mein Weib mit dem sinkenden Vollmonde morgen Nacht sterben müsse, ward in mir zur dämonischen Gewißheit. Ich sah in dem Trabanten unserer Erde den Mörder meiner Frau.

Berlin! Ah! Das Geräusch und Getöse in der Kaiserstadt weckte mich aus meinem Hinbrüten. Ich warf mich in eine Droschke und fuhr nach dem Hamburger Bahnhofe.

Hm! alle diese Menschen, die du hier fröhlich und geschäftig gehen siehst, was sind sie im Grunde anders als wandelnde Leichen? – Dort steht die Siegessäule. Dem Andenken vieler Tausende von Todten zugleich errichtet. Freilich! der Tod ist Nichts, wenn er uns selbst trifft. Ich bin ihm oft genug gegenübergestanden. Auf Schlachtfeldern, auf dem stürmischen Ocean, an fieberverpesteten Meeresküsten etc. Aber Andere sterben sehen, Andere, die man liebt, die uns das Höchste auf der Welt sind, das ist schlimmer als Sterben, das ist die scharfe Klinge des erbarmungslosen Fatums, die uns trifft, verwundet. Und wenn die „Zeit“ die Wunden heilt – die Narben heilt sie nicht, und es giebt Narben, welche schmerzhaft wieder aufbrechen als blutende Wunden der Erinnerung.

Um drei Uhr Nachts verließ ich den Zug bei H. Ein offener Jagdwagen, mit einem kräftigen Pferde bespannt, erwartete mich. Der Kutscher brachte mir ein Schreiben meines Schwagers. „Helene’s Zustand noch unverändert. Wir wollen das Beste hoffen,“ hieß es darin. Ich stieg auf den Wagen, und fort ging es in raschem Trabe.

Diese Nacht vom 23. auf den 24. September war eine Sternennacht, wie ich mich nicht erinnere, sie jemals, selbst auf den Höhen der Cordilleren nicht, gesehen zu haben. Fehlten auch die südlichen Sternbilder, das „Schiff des Argo“, das „Kreuz des Südens“, die „Wolken des Maghellan“ etc., so funkelte und flammte der „Orion“, so leuchteten die „Plejaden“ mit einer diamantenen Intensität, als ob sie selber Diamanten wären. Ein leuchtender Baldachin des majestätischsten Friedens wölbte sich das Sternenfirmament über meinem Haupte und – „es kann nicht sein! Es kann nicht sein, daß dir jetzt in dieser Harmonie des Weltalls das Theuerste geraubt wird,“ keuchte es in meiner Seele.

Der Mond sank unter den Horizont; die Sterne erbleichten rasch; das Grauen des Tages begann im Osten. Die Luft wurde kalt, kalt wie eine Leiche. – Eine halbe Stunde vor unserm Gute fuhr der Wagen an einem schwarzgekleideten Fußgänger vorüber. Das bleiche Gesicht eines dem Anschein nach noch jungen Mannes blickte mich an.

„Kennen Sie den Herrn?“ fragte ich den Kutscher und erwartete die Antwort, es sei ein Arzt.

„Nein, ich kenne ihn nicht; er ist nicht hier aus der Gegend,“ wurde mir zum Bescheid.

Wir bogen in einen sandigen Feldweg ein. Am Ende desselben stand die Windmühle des Dorfes, welches unser Ziel war. Sie hatte durch einen Sturm einen Flügel verloren. – Man achtet auf Alles in Stimmungen, wie die meinige es war. Der Glaube schwindet; man klammert sich an den Aberglauben an.

Fünfzig Schritte vor dem Thorwege des Gutes ließ ich den Wagen halten, um meine sterbende Frau nicht durch das Rollen der Räder zu erschrecken. Die Schwestern meiner Helene und mein Schwager erwarteten mich bereits und kamen mir entgegen. Der große Kettenhund bellte nicht freudig wie sonst, wenn er mich sah; er winselte mich an.

„Todt?“ fragte ich mit bebender Stimme.

„Der Doctor meint, wenn keine Entzündung hinzutritt, kann Helene vielleicht gerettet werden. Jetzt schläft sie,“ antwortete mein Schwager.

Dann, während wir in das Haus traten und mein Auge auf einen kleinen Sarg fiel, sagte er mit halblauter Stimme hinzu:

„Wollen Sie das Kind sehen? Ich fahre es gleich nach dem Kirchhof.“ – –

Der rauhe Egoismus der Mannesnatur flackerte in mir auf. Mit einer heftig abwehrenden Bewegung rief ich:

„Schweigen Sie von dem Kinde! Mein Weib, mein Weib! Darum bin ich hier.“ –

Bald darauf erschien der Arzt. Er verhehlte mir das Kritische der Lage nicht. An seiner Hand betrat ich das Krankenzimmer – mit einer Nothlüge. Die „Ungeduld“ hätte mich herbeigeführt, erklärte der Doctor und es hätte keine Gefahr auf sich, wenn ich in der Nähe der Kranken wäre.

Helene drückte mir sanft die Hand. Ich fühlte den Puls. Schwach, aber in dreifach raschern als normalen Schlägen fieberte das entkräftete Blut. Mein Auge, als es sich an das gedämpfte Licht der Wochenstube gewöhnt hatte, fiel auf ein Leichengesicht. Die dunkeln Augen hatten ihr Pigment verloren und stierten in verglastem Hellgrau in die Leere. Die halbgeöffneten Lippen waren hart und erwiderten den leisen Kuß nicht, den ich ihnen aufdrückte. Meine Frau erkannte mich, aber die Worte, die sie sprach, waren zusammenhangslos, verworren.

Ich begriff, daß die größte Ruhe das einzig mögliche Rettungsmittel sei, und entfernte mich leise wieder mit dem Arzte.

„Doctor,“ sprach ich, als wir wieder draußen waren, „zur Entzündung der inneren Theile kommt es nicht; die Entkräftung ist schon zu groß; das reagirende Fieber beschleunigt nur die Auflösung.“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Dennoch gebe ich nicht alle Hoffnung auf,“ sagte er. „Etwas normaler ist der Zustand seit gestern geworden, freilich, nur Etwas.“

Die Stunden dieses Tages jagten dahin. Es ward Mittag; es ward Abend, ehe ich es ahnte. Und ich, der ich so gern nicht eine Secunde vom Krankenbette gewichen wäre, mußte mir Zwang anthun und den Schwestern meiner Frau die bessere, weibliche Pflege überlassen.

Als der Doctor Abends wiederkam, fand er die Kranke

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_759.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)