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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Asyl auch Demjenigen, welchem selbst die wenigen Cents, die zu erlegen waren, mangelten, ebenso gastlich erschloß, wie seinem bezahlenden Cameraden, versteht sich von selbst.

„Aber es mußte,“ wie Herr Brace selbst in seinen jüngst erschienenen Aufzeichnungen über die Wirksamkeit der verschiedenen Anstalten der Gesellschaft sagt – „es mußte Alles daran gelegen sein, die jungen Burschen als selbstständige Kunden zu behandeln, ihnen nichts in Gestalt einer Wohlthat und ohne Entgelt aufzudringen, zugleich aber auch ihnen in ihren Unterkunftshäusern unvergleichlich mehr und Besseres zu verabfolgen, als sie für ihr Geld irgendwo anders erhalten konnten.“

In einem ihrer Unterkunftshäuser! Denn nicht nur, daß die Anstalt an der Ecke von Fulton- und Nassaustreet bald das ganze Gebäude einnahm – seitdem ist längst ein mächtiger Geschäftspalast an der Stätte emporgewachsen – selbst dieser sollte sich nach einigen Jahren für den Andrang der ihm zuströmenden jugendlichen Kunden nicht mehr hinreichend erweisen, und namentlich sollten es die Schulzimmer sein (die gefürchteten, unheimlichen Schulzimmer, das Fegefeuer zu der Hölle des Correctionshauses), welche bald nicht mehr Raum und Comfort genug boten. Das schreckliche Gespenst einer zwangsweisen Besserung und Freiheitsberaubung, welches zuerst für die übermäßig verschmitzten jungen Heiden hinter dem seltsamen Geschäft mit seinen Badezimmern, billigen Mahlzeiten, guten Betten, Abendschulen und sonntäglichen Bibellesungen und Gesangsübungen gelauert hatte, war bald in Nebel zerronnen, und gerade die Abend- und Sonntagsschulen waren es, die in kurzer Zeit eine Anziehung übten, vor der ihre Besucher erschrocken zurückgebebt wären, wenn sie schlau genug gewesen wären, einzusehen, daß sie in ihren Wirkungen von denen des gefürchteten Correctionshauses kaum unterschieden waren. Nicht nur von denen besucht, welche mehr oder minder regelmäßige Nachtgäste des Logirhauses waren, sondern auch von ihren Cameraden und „Geschäftsfreunden vom Straßenpflaster“ erst aus Neugierde, dann aus Theilnahme an den Vorgängen selbst frequentirt, wurden sie sehr bald zu einer ebenso beliebten wie nutzbringenden, den höheren Zwecken der Gesellschaft dienenden Einrichtung.

Es war im Jahre 1867, als die „Children’s Aid Society“, durch den wachsenden Zuspruch ihrer Anstalt genöthigt, sowie durch die ihr immer reichlicher zufließenden Mittel dazu befähigt, das alte Sun-Gebäude aufgab und am Park-Place ein für sechstausend Dollars jährlichen Zinses gemiethetes vierstöckiges Gebäude von der Größe und Stattlichkeit, welche die Handelspaläste jener Gegend kennzeichnet, für ihre Zwecke erwarb. Doch auch hier sollte ihres Bleibens nur für einige Jahre sein. Schon 1869 sah sie sich genöthigt, die Errichtung eines eigenen genügenden Baues in Aussicht zu nehmen, der, von vornherein nur im Hinblick auf den einen Zweck, für den er bestimmt ist, errichtet, demselben auch auf eine geraume Zeit hinaus entsprechen sollte. Das Grundstück des in den vierziger und fünfziger Jahren als deutsches Einwanderer-Hôtel bekannten Shakespeare-Hauses wurde erworben und auf ihm in Gestalt eines mächtigen, unregelmäßigen Vierecks ein Stein- und Ziegelbau errichtet, der sechs hohe, luftige Stockwerke zählt und der in seiner architektonischen Neuheit und Prächtigkeit mit einem Schlage die ganze Physiognomie des winkligen und unsaubern Stadtviertels, in dem es sich erhebt, umgewandelt hat. Im Januar 1874 wurde das Gebäude seiner Bestimmung übergeben. Mit Ausnahme des Erdgeschosses dient es nur der einen Bestimmung, welche die seiner Front in Sandstein eingefügte weithin sichtbare Inschrift besagt: dem eines „Newsboys-Lodging-House“. Das erste Stock enthält den Eßsaal und die Badezimmer, das zweite den Schulsaal, das dritte und vierte die Schlafräume mit im Ganzen dreihundert Betten, das fünfte einen großen Turnsaal. Der Preis für ein Nachtlager ist sechs Cents, der für Abendbrod und Frühstück ebenso hoch. Doch verpflichtet die Abnahme des einen nicht zu der des andern. Seit Jahren schon beträgt die Durchschnittszahl der nächtlichen Gäste nie unter zweihundert und dennoch herrscht in diesem während der Abend- und Morgenstunden von wimmelndem Leben erfüllten Bienenstocke eine mustergültige Ordnung. Vollkommene Unparteilichkeit und Pünktlichkeit in der Bedienung einerseits, andererseits Freundlichkeit, mit militärisch strenger Disciplin vereint: das sind die Elemente, welche zu einer so erfolgreichen Herrschaft in dieser eigenartigen Welt geführt haben.

Außer dieser großartigen Anstalt im Herzen des unteren New-York besitzt die Gesellschaft heutigen Tages noch vier andere Logirhäuser in verschiedenen Gegenden der Stadt, die sich an Ausdehnung und Stattlichkeit der Einrichtung freilich nicht mit dem Haupthause vergleichen dürfen, in ihrer Art jedoch für die Districte, in welchen sie liegen, kaum ein geringerer Segen sind, als jenes. Eines davon ist nur für Mädchen bestimmt und gleich den Knabenhäusern mit einem Bureau für die Vermittlung von dauernden Unterbringungen ihrer jugendlichen Schutzbefohlenen in Geschäften oder Privathäusern verbunden. Sie repräsentiren ein Besitzthum der Gesellschaft von etwa hunderttausend Dollars, während sich der Werth des neuen Haupthauses allein auf nahezu das Doppelte beläuft. Rechnet man hierzu noch das im Laufe der Zeit aus den Ueberschüssen der regelmäßigen Jahreseinkünfte (darunter die Tausende betragenden Unterstützungen seitens der Stadt und des County New-York), sowie aus allerlei Schenkungen und Vermächtnissen erwachsene freie Vermögen, welches, in guten Sicherheiten angelegt, sich auf hundertachtzig- bis hundertfünfundachtzigtausend Dollars beziffert, so wird die Berechtigung, mit welcher die Gesellschaft oben eine halbe Millionärin genannt wurde, zur Genüge ersichtlich. Ihre Einnahmen, die während des ersten Versuchsjahres nicht mehr als viertausendsiebenhundertzweiunddreißig Dollars betrugen, waren für das letzte Verwaltungsjahr (1873) auf hundertzweiundsiebenzigtausenddreihundertfünfundzwanzig Dollars gestiegen, das Ausgabenbudget derselben Zeit von viertausendeinhunderteinundneunzig Dollars auf hunderteinundsiebenzigtausendachtundfünfzig angewachsen, während sich die Gesammtsumme, welche in diesen einundzwanzig Jahren von der Gesellschaft für die verschiedenen von ihr verfolgten philanthropischen Zwecke ausgegeben wurden, auf eine Million vierhundertvierundzwanzigtausendsechsundvierzig Dollars beläuft.

Um einen klaren Begriff von Dem zu gewinnen, was mit Hülfe dieser Summen geleistet worden, müssen die drei Hauptzweige der gesellschaftlichen Thätigkeit, von denen die Errichtung und Unterhaltung der Logirhäuser nur einen bilden, besonders in’s Auge gefaßt werden. Die andern beiden bestehen in der Unterhaltung von sogenannten Industrieschulen (richtiger Armenschulen) und in der Unterbringung respective Auswanderung von Knaben nach dem Westen.

Nach dem letzten Jahresbericht beliefen sich die Ausgaben für das Haupt-Unterkunftshaus auf 16,085 Dollars, zu deren Deckung die Knaben selbst 4382 Dollars beisteuerten. Die Zahl dieser Letzteren betrug 7568. Während des gesammten einundzwanzigjährigen Bestehens dieser Anstalt fanden 107,568 Knaben im Alter von sechs bis achtzehn Jahren in ihr Unterkunft, welche zu einem Gesammtausgabenbudget von 164,453 Dollars die Summe von 41,003 Dollars bezahlten.

In der Führung der Schulen der Gesellschaft – sie nennt dieselben, weil sie den Besuchern auch die Gelegenheit zur Erlangung von allerlei mechanischen Fertigkeiten bieten, „industrial schools“ – wird auf den confessionslosen Charakter dieser Anstalten ein besonderer Nachdruck gelegt. Eben so wenig spielt die Nationalität bei ihnen eine Rolle, wie das Bestehen einer Schule eigens für deutsche und einer eigens für italienische Kinder beweist. Im Augenblick bestehen im Ganzen einundzwanzig solcher Schulen, von denen zugleich fünfzehn Abendschulen sind, und an denen im Ganzen siebenundachtzig Lehrer und Lehrerinnen unterrichten. Die Kosten ihrer Unterhaltung beliefen sich während des letzten Jahres auf 68092 Dollars und ihr durchschnittlicher Besuch, bei einer Gesammtzahl von 9584 Schülern, betrug 3477 Köpfe. Die Gesellschaft betrachtet diese Anstalten theils als eine Vorschule für irgend einen praktischen Beruf ihrer nur der tiefsten Hefe und Armuth der Bevölkerung entnommenen Besucher, theils als ein Mittel, ihnen, die schon in ihren Kinderjahren bestimmten Erwerbszweigen obliegen müssen, wenigstens in den Abendstunden die Erlangung nützlicher Kenntnisse zugänglich zu machen, theils endlich als eine Vorbereitung für die öffentlichen Freischulen, für deren Besuch sie durch die „Vermenschlichung“, der man sie hier unterzieht, sowie durch die Ausrüstung mit Kleidungsstücken und sonstigem Nothwendigen fähig gemacht werden, so daß zahllose der tiefsten Armuth und Noth entsprossene Kinder auch äußerlich in Stand gesetzt werden, den ihnen zukommenden Platz unter ihren den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_744.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)