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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

neugebornes Kind in einem Kasten in’s Meer geworfen und vom Fischer Diktys im Netze an’s Land gezogen. Wie Sigfrid vom Schmidt Mime oder Regin, einem Zwerge, zu dem sich offenbar eine frühere Göttergestalt vermenschlicht hat, das Schwert Gram oder Balmung, so erhält Perseus vom Schmiedegott Hephästos das Schwert Harpe. Wie Sigfrid die unsichtbar machende Tarnkappe, so besitzt Perseus den unsichtbar machenden Hadeshelm. Wie Sigfrid den Lintwurm erlegt und aus dessen Gewalt die geliebte Königstochter befreit (nach einem freilich erst mittelalterlichen, aber zweifellos aus alter Tradition schöpfenden Liede), so überwindet Perseus ein drachenartiges Meerungeheuer, und auch er rettet dadurch eine gefesselte Königstochter.

Ein dritter griechischer Drachentödter ist Jason, der Held der großen Argonautensage. Die Stelle der Odyssee, in welcher sie als „die allbesungene“ bezeichnet wird, ist zwar nachweisbar unecht, aber wahrscheinlich aus einem der Odyssee nahezu gleich alten Liede eingeschaltet. Unverkennbar ist diese Sage wirklich eine der am meisten verbreiteten, ja, so lange die Haupt- und Nationalsage des Volkes gewesen, wie noch die Eröffnung und Ausbeutung der fernen Länder im Osten des schwarzen Meeres als die folgenreichste Großthat bewundert wurde. Erst als diese in Schatten gestellt wurde durch die Erwerbung des westlichen Kleinasiens, die man als begonnen betrachtete mit der Eroberung Trojas, wurde sie von diesem ersten Platze verdrängt durch den troischen Sagenkreis. Es ist sehr merkwürdig, daß ihr gemeinsam vererbter Kern bestimmt war, sich zu unserer herrschenden Nationalsage zu entfalten. Denn mit der Argonautensage ist die Nibelungensage – worauf ich in meinen Vorträgen zuerst aufmerksam gemacht habe – nicht nur verwandt, sondern in den Grundzügen identisch.

Noch in unserem Nibelungenliede hat sich eine Spur davon erhalten, daß dem Helden Sigfrid ein schnelles Wunderschiff zu Gebote steht. In seiner Tarnkappe, erzählt die achte Aventiure, besteigt er das Schiffel:

Man wânde daz ez fuorte ein sunderstarker wint,
Den vergen sach doch niemen.

In Zeit nur eines Tages und einer Nacht gelangt er so in’s geheimnißvolle Nibelungenland. – Ich erinnere ferner daran, daß in einem Eddaliede Brunhild, unter dem Namen Sigurdrifa, den Helden Sigfrid, ihren Verlobten, am Anfang seiner Laufbahn in Sieg-Runen, Schwert-Runen und allerlei Zauberkünsten unterrichtet. Dann erlegt er den Drachen und gewinnt den von ihm bewachten Goldhort der Nibelunge, wird aber seiner ersten Verlobten treulos zu Gunsten der Königstochter Krimhild (oder Gudrun, wie sie in der Edda heißt), und fällt durch die Rache Brunhildens.

Gerade so gelangt Jason auf dem Wunderschiff Argo, das ist die schnelle, nach Aia, was eben nur ein unbestimmt gelassenes ferngelegenes Land bedeutet, nach Kolchis, wie es später bezeichnet wurde, wird dort von der Jungfrau Medea in Zauberkünsten unterrichtet, vermählt sich mit ihr, erlegt einen Drachen, erobert das von ihm bewachte goldene Vließ, wird der ersten Geliebten treulos zu Gunsten der korinthischen Königstochter Kreusa und geht unter durch die furchtbare Rache Medea’s. Auch den Kindermord der Letzteren finden wir in der Nibelungensage wieder, aber freilich nicht auf Brunhild, sondern auf Krimhild übertragen, die nach den Atleliedern der Edda ihrem zweiten Gemahl Etzel, zur Rache ihrer Brüder, ihre und seine leibliche Brut als Speise vorsetzt, wie es in der Tantalidensage Atreus seinem Bruder Thyestes anthut. Ja, ich treibe nicht etwa nur ein spitzfindiges Spiel mit Wortähnlichkeiten, wenn ich behaupte, daß Nibelunge schon in der Argonautensage auch genannt werden. Denn Nibelunge, das ist Söhne der personificirten Finsterniß, bedeutet ursprünglich Kinder des Nebels. Phrixos aber und Helle, mit deren Flucht durch die Lüfte nach dem fernen Aia, bewerkstelligt auf dem Rücken des goldvließigen Widders, die Argonautensage anhebt, sind Kinder des Athamas, eines Sohnes des Windgottes Aeolos, von seiner göttlichen Gemahlin Nephele, und dieses Wort, mit unserem „Nebel“ identisch, bedeutet die Wolke. Nicht hier ist der Ort, zu zeigen, welche Naturanschauung in der Nibelungen- und Argonautensage zur Mär vermenschlicht wurde. Nur daran sei erinnert, daß sowohl die Tarnkappe wie das geheimnißvolle Fahrzeug, in welchem Sigfrid unsichtbar in’s Nibelungenland fährt, ursprünglich nichts anderes bedeuten als die Nebelumhüllung, in welcher die warme Frühlingsluft im kälteren Norden anlangt; denn beide Besitzthümer sind bei der Vermenschlichung der Göttersage auf den Helden übergegangen als Aenderbildungen des schnellen Wunderschiffes Skidbladnir, welches dem Sonnengott Freyr zur Verfügung steht und welches dieser bis zur Unsichtbarkeit zusammenfalten kann, der Wolke, der „Seglerin der Lüfte“.

Eine historisch noch nicht meßbare Zeit, sicherlich aber beträchtlich mehr als ein Jahrtausend, muß verflossen sein zwischen der Trennung der Vorfahren der Indier, Iranier, Griechen und Germanen vom arischen Urstamm und der jedem dieser Völker eigenthümlichen Ausbildung ihrer uns erhaltenen epischen Ueberlieferung. Ueber ein Drittel des Erdumfanges und die allerverschiedensten Länder durchziehend und besiedelnd, hatten ihre Nachkommen die verschiedensten Schicksale erfahren, und alles das hatte verändernd einwirken müssen auf ihre Sage. So erscheinen denn diese Uebereinstimmungen, die ich noch um eine Menge von Zügen vermehren könnte, in der That fast größer, als wir sie erwarten sollten, und sicherlich auffallend genug, um darauf hin zu behaupten, daß, wie die Sprachen der Indogermanen nur Dialecte einer Stammsprache sind, und wie ihre ursprünglichen Religionen nur Metamorphosen sind von einer und derselben Urreligion, gerade so auch der Grundstock der Heldensage der vier epischen Völker, die es auf Erden giebt, ihr gemeinschaftliches Erbe ist vom Stammvolke der Arier, daß wir also schon diesen einen von den Priestern abgezweigten Sängerstand und den Besitz des Epos mindestens auf jener zweiten Stufe, als Chronik des Volkes in Liedern, zuschreiben dürfen.

Als Stämme der Arier von ihren Ursitzen in den Hochlanden Mittelasiens theils nach Süden und Südosten, theils nach Westen und Nordwesten auswanderten, da ging die Sprache der ausgesandten Volksäste allmählich auseinander in Mundarten, die einander immer mehr unähnlich wurden bis zur gegenseitigen Unverständlichkeit. Ebenso verwandelte sich das ihnen gemeinsame Epos. Was sie Neues erlebten, vermischte sich umgestaltend mit den älteren Sagen. Andere Erdgürtel mit anderen Himmelserscheinungen und Jahreszeiten, anderen Thieren und Pflanzen, gaben neue Anschauungen, bedingten andere Thätigkeit, andere Sitten. Und wie vordem die Maler die biblischen Patriarchen im Costüme des Mittelalters zu malen pflegten, wie noch Shakespeare’s Bühne die alten Römer frischweg auftreten ließ in Kleidung und Rüstung altenglischer Ritter: so hat auch das Epos stets und zu allen Zeiten, auch das homerische keineswegs ausgenommen, die Trachten und Sitten einer noch erinnerlichen und vorstellbaren jüngern Vergangenheit gewählt für die Gestalten der Vorzeit, ihren Thaten Schauplätze gegeben in der neuen Heimath, sie immer wieder wo anders localisirt.

Ja, es hat mehr gethan. Es hat, wie das schon ein früherer Brief andeutete, die alten Götter und alten Helden stets auch zu Trägern neuer Glaubenslehren, neuer Bestrebungen gemacht. Sie waren ihm die heiligen Gefäße der Tradition, zu der es sich berechtigt und verpflichtet fühlte, auch den besten Saft der jüngsten Thatenernte der Völker hinzuzugießen. Es legte diesen alten Göttern in den Mund die Gebote einer vorgeschrittenen Sittenlehre; es machte diese alten Helden zu Vorkämpfern der die Herzen des Volkes bewegenden Zukunftshoffnungen, seiner religiösen, gesellschaftlichen und politischen Ideale. Ein Epos von modernem Stoffe ist die gleiche Afterkunst wie eine nagelneugebaute Ruine, die gleiche Unmöglichkeit wie neusilbernes Gold. Seine prägende Idee aber muß modern sein, und in diesem Sinne ist es immer modernisirt worden – obwohl man sich hier dieses mit widrigem Beigeschmack behafteten Wortes besser gar nicht bedient, da die Poesie, mit Ausnahme etwa der satirischen, mit der eigentlichen Mode am allerwenigsten zu schaffen hat. Von keinem besser, als vom größten aller Epiker, von Homer, läßt sich nachweisen, daß er gerade durch die Darstellung der durchgreifenden Erneuerung, die sich in seinem Volke vollzogen hatte, seine gewaltige, alle Jahrtausende durchdauernde Wirkung erzielt hat.

Von einem antikisirenden Epos, das sich als lebensfähig erwiesen hätte, weiß die Geschichte der Poesie nichts, wenn auch von einigen mißlungenen Versuchen, ein solches Unding zusammenzukünsteln.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 741. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_741.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)