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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Erzählung des Mönches Benedict von Soracte (um’s Jahr 1000), Rittergedichte und Legenden, wie der Helianth,[BER. 1] erzählen, daß Karl der Große diese Reliquien von seinem Zuge nach dem gelobten Lande mitgebracht habe. Die Profanhistorie weiß aber von einem solchen Zuge nichts, und verweist die Erzählung davon in das Gebiet der Dichtung.

Es giebt überhaupt nur ein einziges vertrauenswürdiges Document, welches die an sich wahrscheinliche Sache, daß Karl der Große nach der Gewohnheit seiner Zeit den Altar seiner Hofkirche mit Reliquien geschmückt habe, einigermaßen erhärtet; es ist die zu Gunsten der letzteren erlassene sogenannte pragmatische Sanction. Das Schriftstück ist, wie es heute vorliegt, erwiesenermaßen unecht, doch haben die Kaiser Friedrich der Erste und Zweite sein Vorhandensein anerkannt und die Echtheit bestätigt; man kann ihm deshalb wohl den Werth einer beglaubigten Abschrift zugestehen. In dieser Schrift heißt es wörtlich: „Da ich das herrliche Werk der vortrefflichen Basilika nicht allein nach meinem Wunsche und Verlangen, sondern auch durch die Gnade Gottes vollkommen zu Stande gebracht, habe ich Heiligthümer der Apostel, Märtyrer, Beichtiger und Jungfrauen aus weit entlegenen Ländern und Reichen, besonders aus Griechenland gesammelt und an diesem heiligen Orte hinterlegt, damit durch ihre Fürbitte das Reich befestigt und Nachlaß der Sünden verliehen werde.“

Man bemerke wohl, daß in dieser Aufzählung der jetzigen Hauptschätze, der Marien- und Christus-Reliquien, mit keiner Silbe Erwähnung geschieht, ein Beweis, so gut er irgend noch verlangt und geführt werden kann, daß Karl’s Gedächtniß mit denselben nicht verunziert werden darf. Das Lendentuch Christi wird in den älteren Verzeichnissen, die im neunten Jahrhundert beginnen, nicht mit aufgeführt und zuerst im Jahre 1192 erwähnt. Das ebenfalls zu den vier großen Reliquien gezählte blutige Tuch Johannes des Täufers taucht erst im vierzehnten Jahrhundert auf, der Aachener Gürtel Christi gar erst im siebenzehnten Jahrhundert. Karl der Große, obwohl in den Anschauungen seiner Zeit befangen, besaß einen verhältnißmäßig vorurtheilsfreien prüfenden Geist; er befahl in seinen Capitularien die Unordnungen bei Wallfahrten streng zu ahnden; er ersuchte Papst Leo den Dritten, eines der sogenannten, jetzt vollkommen erklärten Blutwunder,[1] welches sich in Mantua gezeigt hatte, sorgfältig untersuchen zu lassen; er glaubte gewiß nicht daran, daß getragene Baumwollstoffe sieben Jahrhunderte lang ihr Gewebe bewahren könnten. Daß er Knochen von Heiligen, die zu seiner Zeit ausgegraben wurden, gesammelt und zur Heiligung seiner Kirche verwendet habe, ist dagegen sehr glaublich.

Selbstverständlich läßt sich nur selten der directe und positive Beweis der Unechtheit einer sogenannten Reliquie führen, und nur wenn ein Kalbsknochen statt eines Menschenknochen dem Kusse der Gläubigen ausgestellt wird, oder das bisher unbekannte wirkliche Grab mit dem Skelete eines Heiligen, dessen Doppelgänger seit Jahrhunderten in einer oder mehreren Kirchen Wunder gethan haben, gefunden wird, zeigt sich der Schwindel offen. Wir haben vor wenigen Monaten einen solchen directen Fälschungsbeweis an den in Breisach seit Jahrhunderten ihrer Wunderthaten wegen verehrten Heiligen Protasius und Servasius[BER. 1] erlebt, an welchem Scandale auch das Aachener Stift participirt, sintemalen es bedeutende Gebeintheile der erst jetzt in Mailand wirklich aufgefundenen Märtyrer dem Kaiser Karl dem Vierten nach Prag verehrte. Dagegen läßt sich der negative Beweis, oder vielmehr ein Erweis der ungeheuren Unwahrscheinlichkeit der meist vorherrschenden Annahme, der etc. Knochen oder Lumpen könnte doch echt sein, insbesondere bei den Reliquien der Lebens- und Leidensgeschichte Christi sehr leicht führen.

Wir müssen dieserhalb freilich etwas näher auf den Ursprung des Reliquien-Schwindels eingehen. Die Juden hatten einen ausgesprochenen Abscheu vor Bilder-Anbetung und allem, was daran hängt, und im ganzen alten Testamente findet sich keine Spur von Reliquien-Verehrung, denn nicht einmal die Knochen des Erzvater Joseph, die auf den Wunsch des Sterbenden mit nach dem gelobten Lande genommen wurden, erfuhren solche. Nur der Zelot Elisa, der angeblich zweiundvierzig Kinder durch Bären auffressen ließ, weil sie ihn Kahlkopf geschimpft hatten, macht eine ungewöhnliche Ausnahme, insofern er mit dem Mantel des Elias und mit seinen eigenen Knochen Wunder wirkte. Dagegen war der Reliquien-Schwindel im Heidenthume obenauf und zeigte genau die Erscheinungen, wie später im Christenthume. Die wunderthätige große Zehe, womit der König Pyrrhus die Milzsucht auszutreiben pflegte, setzte man, wie Plinius berichtet, in einem besonderen Tempel bei, woselbst sie fortfuhr, ihre Kunststücke zu machen. Die Knochen des heiligen Propheten Mopsus heilten, wie Ammianus Marcellinus erzählt, die Krankheiten aller Wallfahrer, die nach seinem Grabe in Afrika pilgerten.

Besonders berühmt aber als Gnadenstätte war die Stadt Comana in Kappadocien, die ihren Namen nach dem dort aufbewahrten Haare des heiligen Orestes führte, das Rom der Heiden, dessen Pontifex maximus keinen Fürsten über sich anerkannte. Aber eine zweite Stadt Comana machte ihm den Ruhm, die echten Locken des Orest zu besitzen streitig, und in dem Orte Kassabala[BER. 1] zeigte man ebenso wie in Comana das Opfermesser Iphigeniens, ja Athen und Sparta machten ihrerseits den beiden Comanen in Vorzeigung des „allein echten“ Bildes der taurischen Diana Concurrenz. Es gab so viel dieser Palladien wie gegenwärtig echte Köpfe des Täufers Johannes, obwohl die Bibel in ihrer Einfalt lehrt, der arme Mann habe nur einen Kopf zu verlieren gehabt. Ging im Alterthum ein solches, meist vom Himmel gefallenes Palladium durch Raub oder Brand verloren, so machte man es wie mit dem vom Himmel gebrachten Salbfläschchen Chlodwig’s oder der ebendaher stammenden rothen Kriegsfahne (Oriflamme) der Franzosen; man fand es nach der Vernichtung wieder, oder behauptete, der Feind habe eine zur bessern Sicherung angefertigte Fälschung erwischt.

Dies war vorauszuschicken, um den heiligen Zorn zu erklären, mit welchem die ältesten, sittenstrengen Lehrer der Kirche den ab und an auftauchenden Reliquien-Unfug als heidnischen Gräuel ächteten. So lange die neue Lehre um ihre Existenz und staatliche Anerkennung zu kämpfen hatte, das heißt, Jahrhunderte lang, hörte man nichts von dem Verbleib der Kleider und Marterwerkzeuge Christi oder der Knochen der Märtyrer. Sobald sie aber einigermaßen zur Ruhe gekommen war, ging die Abgötterei zunächst mit den Gebeinen der Märtyrer los. Die älteren Kirchenväter, in der Reinheit ihrer Auffassung der Lehre, witterten darin sogleich eine Verletzung des ersten Gebotes Moses, und Tertullian gab ohne Weiteres den Teufel als Urheber des Reliquien-Unfugs an. Athanasius, der im vierten Jahrhundert lebte, und insbesondere der Presbyter Vigilantius, eiferten ihm darin nach; der Erstere ließ alle Reliquien, deren er habhaft werden konnte, einmauern.

Im vierten Jahrhundert bereits begann man in Jerusalem und im Morgenlande überhaupt, das Reliquien-Graben und Fabriciren als Geschäft zu betreiben. Der Kirchenvater Hieronymus erzählt uns, wie man kurz nach einander die Körper der heiligen Apostel Andreas, Lucas und Timotheus dreihundert Jahre nach ihrem Begräbniß aufgefunden und nach Byzanz gebracht; ja die Asche des heiligen Samuel, dessen Ruhe einst Saul gestört, wurde plötzlich an’s Licht gebracht, und der Kaiser Arkadius ging der großen Procession bis vor die Thore seiner Hauptstadt entgegen. Der Abscheu der Bischöfe hatte sich bald in sein Gegentheil verkehrt, nachdem sie die Einträglichkeit der Sache eingesehen, und nur ein Eunapius und ähnliche Heiden machten sich noch über die eingepökelten Märtyrerköpfe lustig, welche, wie weiland das Haupt des erschlagenen Orpheus, das Mittleramt zwischen Himmel und Erde zu besorgen bekamen. Und wie man ehedem an den Gräbern der Märtyrer gebetet, so wurde es bald erstes Bedürfniß, für die Errichtung einer neuen Kirche oder eines neuen Altars Märtyrerknochen, nach denen sie getauft werden konnte, anzuschaffen und damit den Ort zu weihen. Das Bedürfniß war groß, aber woher nehmen und nicht stehlen? Man weiß aus den Erfahrungen neuerer Zeiten – ich erinnere nur an die Erhebung der Reste Schiller’s – wie schwer es selbst in ruhigen Zeiten ist, einige Jahrzehnte nach dem Begräbniß die Identität von Menschengebeinen festzustellen; der Selbsttäuschung und dem Betruge waren hier Thor und Thür geöffnet.

Man kennt aus den Berichten zahlreicher Orientreisender

  1. Der Leser wolle meinen Aufsatz über dieselben in Nr. 14 des vorigen Jahrganges der Gartenlaube vergleichen.

[Berichtigung]

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_709.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)