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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

hatte sie nun wegen ihrer Begräbnißstätte verordnet, daß sie da sein solle, wo ein Paar Ochsen, die den Wagen mit ihrer Leiche frei, wohin sie wollten, ziehen sollten, von selber stehen bleiben würden. Die Ochsen zogen den Leichenwagen der Notburga den Schloßberg hinab,

Schloß Thurneck.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

durch den Inn, der ihm, wie das Rothe Meer den Juden, zum Durchzug Platz gemacht haben soll, und zuletzt hinauf nach Eben, und hier ward sie begraben. Hier stand damals eine Capelle des heiligen Ruprecht, und jetzt steht die Sanct Notburgen-Kirche da.

Unsere Leser werden unsere Ansicht theilen, daß die Lebensgeschichte der Notburga eigentlich sehr einfach und kurz sei. Es kann daher kaum ohne ein Wunder möglich geworden sein, daß der Leibmedicus Guarinoni drei Jahre über dem Studium dieses kurzen Lebens zubrachte und der Jesuit Johannes Perierus einen starken Quartband darüber schrieb, der 1753 zu Antwerpen gedruckt wurde. Daraus ersehen wir, daß wir erst zweihundert Jahre nach ihrem Tode die erste schriftliche Aufzeichnung über sie finden, wobei aber

Reste der Rottenburg.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

natürlich die vielen in ihrer Kirche geschehenen Wunder nicht vergessen sind. Auch sollen dort vormals zahlreiche und kostbare Weihgeschenke vorhanden gewesen sein, von denen Niemand weiß, wo sie jetzt sind. Wohlgeborgen waren nur die Gebeine der seligen Notburga geblieben, denn sie lagen noch da, wo sie begraben worden waren. Nun legen aber, wie Steub mit seinem erprobten Scharfsinne erforscht hat, „die Gläubigen der katholischen Kirche vielen Werth auf heilige Knochen und verehren sie mit Inbrunst“ – und so flehten denn im Jahre 1718 auch die Ebener Bauern ihren Herrn Bischof von Brixen an, die Gebeine ihrer Notburga ausgraben zu dürfen. Und dies geschah. Unter der Aufsicht einer bischöflichen Commission gruben die Ebener Männer sieben Tage lang, bis die Commission ein Gerippe fand, das sie als das der seligen Notburga erkannte. Da ward der unschätzbare Fund mit Jubel begrüßt und unter Böllerschüssen in einen Kasten gelegt und in die Kirche getragen. Bald darauf ließ nun der Gerichtsherr von Eben, der Graf J. A. von Tannenberg, den Kasten in seinen Palast zu Schwaz bringen, allwo zwei Gräfinnen von Tannenberg, des Herrn Grafen Frau Mutter und Schwester, die Knochen kunstreich zum Skelet zusammensetzten und es mit Gold, Edelsteinen und Stickereien nach Verdienst und Würdigkeit verzierten. Darauf ward es in einen Glaskasten gelegt, in feierlicher Procession unter Begleitung des Herrn Bischofs und vieler sehr vornehmer Herrschaften in die Ebener Notburga-Kirche zurückgeführt und dort auf dem Hochaltare zur Verehrung und zum Wunderthun aufgestellt.

Ein selbst von Steub noch nicht aufgeklärtes, gewiß ganz außerordentliches Wunder ist nun aber dies: daß der wissenschaftliche Fachmann auf den ersten Blick erkennt, daß das hier ausgeschmückte und verehrte Gerippe niemals einem Weibe angehörte, sondern ein männliches ist, und daß trotz alledem die Wunderkraft des Heiligthums deshalb nicht den allergeringsten Schaden erlitten hat. Ich habe viel über die Sache nachgedacht, bis ich zu dem Satze kam: „Der Hauptwerth der Reliquien besteht ohne Zweifel darin, daß es ganz einerlei ist, ob sie echt oder unecht sind, denn dafür ist der Glaube da.“ Und diesen Satz fand ich auf’s Glänzendste bestätigt, als am siebenundzwanzigsten März 1862 der freilich damals noch nicht unfehlbare Papst Pio Nono auf das inständige Bitten des Fürstbischofs von Brixen die selige Notburga mit ihrem männlichen Gerippe in die Gesellschaft der Heiligen aufnahm. Darüber war ganz Tirol glücklich, denn ich möchte den Tiroler Ort kennen, der gar kein Bild, keine Statue, kein Bildstöckl von der allbeliebtesten Landesheiligen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 683. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_683.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)