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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Ruder etc. vielfach dieselben Wurzeln wiederkehrend zeigen: so ist es undenkbar, daß die Zweigvölker alle diese Worte für die gleichen Dinge erst nach ihrer Trennung und dennoch gleichlautend sollten gebildet haben; so ist damit vielmehr bewiesen, daß diese Wesen und Dinge mit den zugehörigen Thätigkeiten schon jenem Stammvolke bekannt und von ihm so genannt waren.

Alle Cultur aber beruht auf einem langsam aufgesammelten Erbvermögen von Erinnerungen, Fertigkeiten, Kenntnissen und Künsten und kann nur erhalten werden durch eine Aufbewahrung, welche diesen Schatz des Wissenswerthen sicherstellt vor dem Untergange durch den Tod seiner zeitweiligen Inhaber.

So lange die Schrift noch nicht erfunden, so lange man auf mündliche Ueberlieferung beschränkt war, mußte allein das Gedächtniß dies Bewahramt versehen.

Für die unmittelbar lebensnothwendigen Fertigkeiten, Handwerke und Berufsarten entwickelte die Natur der Dinge Stände von so zahlreicher Besetzung, daß ihre Ueberlieferung durch fortdauernden praktischen Unterricht des zahlreichen Nachwuchses keine besondere Gedächtnißkunst erforderte; obwohl es noch jetzt kaum ein Gewerbe giebt, welches nicht diese zu anderm Zweck ausgebildete Kunst ebenfalls benutzt hätte, um durch ihre Mittel wichtige Regeln und Geheimnisse des Berufs in festen Sprüchen zu überliefern.

Aber zu jenem Erbschatz gehörten auch Kenntnisse, zu deren Erwerbung und Bewahrung keine Lebensnothdurft die Menge hinzwang und von deren Erhaltung man gleichwohl das Gedeihen und die Fortdauer des Volkes abhängig wußte oder glaubte. Man hatte auch eine Religion mit verwickelten Gebräuchen und Festordnungen, mit zahlreichen Gebeten, deren Wirksamkeit bedingt galt durch die genaue Richtigkeit ihres Wortlauts, mit heiligen Geschichten von den Thaten der Götter und der Vorfahren, deren Vortrag bei Opfern und Festen einen Theil des Cultus ausmachte; man hatte Regeln der Sitte und ein geltendes Recht in fest formulirten Gesetzen. Ein wissenswerthes Erbgut von so großem Umfang war im Gedächtniß zunächst nur durch eine Theilung der Arbeit des Behaltens zu bewahren. Es war für künftige Geschlechter nur zu sichern durch eine große Zahl von Inhabern und ihre gleichmäßige Ergänzung aus der Jugend. So erwuchs für diesen nicht unmittelbar praktischen, aber heiligen Theil der Arbeit ein hoch angesehener, meist erblicher Stand.

Wie dann die gewerbliche Uebung dieses Standes zur Entdeckung künstlicher Unterstützungsmittel des Gedächtnisses geführt hat und wie auf diese Weise die poetische Form der Rede, der Vers, als Gedächtnißmittel die Vertreterin der noch fehlenden Schrift geworden ist, das will ich hier nicht wiederholen. Denn Sie finden es, in den Hauptzügen wenigstens, schon angedeutet in meiner Schrift: „Der epische Vers der Germanen und sein Stabreim“.

Jener Gesammtschatz geistigen Eigenthums, der durch die poetische Form im Gedächtniß befestigt war und durch einen Stand von Sänger-Priestern verwaltet wurde, ist das Epos im weitesten Sinne des Worts, so genannt, weil die Griechen ihre Literatur eintheilten in ἐπεα und γραμματα, das heißt Werke, die ursprünglich nur als gesprochene Worte vorhanden waren, und solche, die sogleich niedergeschrieben wurden, also in Sagen und Schriften.

Frühzeitig und schon bei den Ariern scheinen sich von den eigentlichen Priestern dieses Standes die Inhaber der an die Göttersage anknüpfenden Heldenlieder als eigener Sängerstand abgezweigt zu haben, jedoch ohne daß deshalb ihre Vorträge aufgehört hätten, für einen Theil des Cultus zu gelten.

Die Gesammtheit dieser Lieder der Götter- und Heldensage im erblichen Besitze gewisser Sängergeschlechter ist das Epos im engeren Sinne. Es hatte zunächst keine andere Einheit, als die, von den Schicksalen des einen Volkes eine Art Liederchronik zu sein.

Diese Stufe des Epos, auf welcher es zur Einheit durch künstlerische Anordnung noch nicht gediehen ist, aber doch schon als ein zusammenhängender Besitz seines Inhalts in der Erinnerung des Volkes vorausgesetzt wird, ist für die Griechen die vorhomerische. Wir erkennen sie sehr deutlich noch aus der Odyssee selbst. Es werden in ihr eine Menge Nebensagen berührt, die mit der Sage vom Troerkriege nichts zu schaffen haben. Das geschieht aber in der Regel so kurz und knapp, daß wir ohne die wissenschaftlichen Hülfsmittel der Mythologie den Zusammenhang oft gar nicht verstehen würden und ihn in einzelnen Fällen wirklich nicht mehr mit Sicherheit herzustellen vermögen. Es geht daraus hervor, daß der Dichter der vollen Vertrautheit seiner Zuhörer mit dem Gesammtschatze unzweifelhaft sicher sein durfte. Vollends deutlich aber zeigt es sich in den Stellen, in welchen die Odyssee Sänger der Vorzeit, wie Phemios und Demodokos, vortragend auf die Scene führt.

So heißt es (nach meiner noch unveröffentlichten Uebersetzung) von Demodokos (VIII, 72): Als man gegessen und getrunken, da

Trieb die Muse den Sänger, vom Ruhme der Helden zu singen
Aus dem himmelhoch zur Zeit gefeierten Liede,
Jenen Streit des Odyß mit Achill, dem Sohne des Peleus,
Wie sie beim köstlichen Mahle der Götter mit heftigen Worten
Einst sich bekämpft, Agamemnon indeß, der Männergebieter,
Heimliche Freude beim Zank der besten der Helden empfunden,
Weil’s ihm Phöbos Apoll im gottbegnadeten Pytho,
Als er fragend daselbst überschritten die steinerne Schwelle,
So prophezeit; denn schon rollte heran der Anfang des Unheils,
Das der gewaltige Zeus den Troern und Danaern zuwog.

Von diesem Liede wissen wir eben nur aus dieser Anführung; aber sie bezeugt doch auf das Bestimmteste, daß es allverbreitet gewesen ist.

Nicht minder deutlich vorausgesetzt sehen wir das Vorhandensein einer zusammenhängenden Sagengeschichte in Liedern und verbreitete Kenntniß derselben, wenn Odysseus, nachdem Demodokos inzwischen ein anderes, den Helden nicht durch persönliche Erinnerung zu Thränen bewegendes Lied, das lustige von der Züchtigung des Ares und der Aphrodite durch den lahmen Hephästos, vorgetragen, ihn folgendermaßen auffordert, jenes erste fortzusetzen:

Loben, Demodokos, muß ich Dich vor den Sterblichen allen.
Dich hat entweder die Muse, die Tochter des Zeus, unterwiesen,
Oder Apoll; so genau besingst Du das Loos der Achäer,
Was sie gelitten, gethan, wie viel und wie schwer sie gerungen,
Gleich als hättest Du selbst es erlebt und von Zeugen vernommen.
Das Lied setze nun fort und singe des hölzernen Rosses
Zimmerung, welches Epeios mit Hülfe Athenens verfertigt,
Dann empor in die Burg durch List Odysseus’ befördert,
Als es die Helden barg, die Ilion endlich zerstörten.
Kannst Du mir jetzt auch das in richtiger Ordnung erzählen,
Dann werd’ ich es hinfort vor allen Menschen bezeugen,
Daß Dir ein gnädiger Gott im Gesang Offenbarungen eingiebt.
     Eifrig gehorchte dem Ruf der Muse der Sänger und knüpfte
Dort wieder an den Gesang, wo die Griechen, nachdem sie die Zelte
Niedergebrannt, an Bord ihrer Schiffe von dannen gesegelt.

Besonders der Ausdruck „dort wieder anknüpfend“ beweist, daß eine solche Sammlung von Liedern als vorhanden und allbekannt bezeichnet werden soll.

Vom Volke selbst ist die Sichtung dieses Haufenwerkes epischer Bausteine ausgegangen. Es bevorzugte denjenigen Sagenkreis, welcher sich um eines seiner zu oberster Wichtigkeit gelangten Erlebnisse gruppirte. Es mußte so die Sänger veranlassen, möglichst ihren ganzen Liederbesitz in Beziehung und Verbindung zu setzen zu diesem beliebtesten Thema, hingegen sich des Vortrages derjenigen Stücke, die es nicht erlaubten, allmählich zu entwöhnen. In diesem Sinne ist also auch die Vorbildung des Epos zu der Einheit, ohne welche dasselbe seine letzte und höchste, die Kunstgestalt, nicht erreichen kann, eine Leistung des Volkes.

Für Alles dies finden wir an einer andern Stelle der Odyssee die Belege, und schließlich sogar ein unumwundenes Bekenntniß des Dichters, was ihn selbst bewogen, die Troerstadt, den Kampf um dieselbe und die Heimfahrt der Sieger zum Mittelpunkte seiner Epen zu wählen.

Als Phemios den Freiern vorsingt „von der traurigen Heimkehr aus dem Troerlande, welche Pallas Athene über die Achäer verhängte“, ruft ihm Penelope (Odyssee I, 337 u. f.) weinend zu:

Manches ergötzliche Lied von den Werken der Menschen und Götter,
Welche der Sänger preist, o Phemios, kannst Du ja singen.
Trag’ ihnen denn von denen eins vor und mögen sie schweigend
Trinken den Wein. Doch höre mir auf mit dem traurigen Liede,
Weil es das Herz mir zerreißt.“

Mit den Liedern von den „Werken der Menschen und Götter“ sind offenbar vorhomerische, jenen uns erhaltenen hesiodischen ähnliche, gemeint. Ihre Verdrängung durch die neueren, einem veränderten Geschmack mehr zusagenden des homerischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_677.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)