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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Verhängnißvolle Offenheit.
Nach dem Oelgemälde von G. Igler.



schärfer lauschte er den einzelnen russischen Worten, die sich in das verstümmelte Deutsch mischten – war es doch seit Jahren zum ersten Male wieder, daß er solche Laute vernahm. Er hatte um so mehr Muße zu seinen Beobachtungen, als sich Niemand um ihn kümmerte. Mit einem Male brach jedoch der Russe das Gespräch ab, indem er aufsprang und die Taschen seines verunstalteten Rockes abfühlte und durchsuchte. Er vermißte sein Taschenbuch und in diesem seine ansehnliche Reisecasse, besann sich aber sogleich, daß er dasselbe bei der letzten Rast unter einer großen Tanne am Wege noch gehabt und erst von da an verloren haben müsse; es galt daher, da er selber zu müde war, sogleich Jemand auf den Weg zurückzuschicken. „Ha! da ist ein Mann,“ rief er, indem sein Blick auf Quirin fiel, „Der kann suchen. He da, Bauer!“ rief er ihn an, „gehe den Berg hinunter und suche meine Brieftasche! Ich gebe Dir zehn Rubel, wenn ich sie wieder habe.“

Quirin maß ihn, sich erhebend, vom Kopfe bis zum Fuße, nahm seinen Bergstock an sich und murrte: „Ich mag nicht.“

Dem Russen stieg bei der unerwarteten Weigerung das Blut in’s Gesicht; er stieß einen Fluch aus und knirschte mit den Zähnen. „Verdammter Bursche!“ schrie er, „wenn Du nicht willst nehmen Rubel, sollst haben Knute.“

Quirin’s Antwort bestand darin, daß er den Bergstock enger faßte wie zur Abwehr des Hiebes, zu welchem der Russe seinen Gehstock erheben zu wollen schien.

„Chatshesh sluchat tui ssawaka?“ schrie dieser. „Ich spalte Dir den Schädel, wenn Du Dich rührst! …“

Diese wenigen Worte brachten Quirin’s mühsam verhaltenen Grimm zum Ausbruch. „Chatshesh sluchat tui ssawaka –“ rief er mit bebenden Lippen. „Sagst Du mir das? Jetzt weiß ich auf einmal, wo ich das hochmüthige Gesicht schon gesehen und den Spruch gehört hab’. … O, ich hab’ ihn mir gut gemerkt. Du bist es also g’wesen, der schon als Bub’ einem halb verhungerten, halb erfrorenen Gefangenen das Milchkrügl vom Mund geschlagen, der verlangt hat, daß ich vor Dir niederknien und mit aufgehob’nen Händen bitten sollt’ wie zu unserm Herrgott. Du hast mich einen Hund geheißen; jetzt mach’ Reu’ und Leid, Kosak! Ich hab’s g’schworen: Wenn Du mir nochmal im Leben unter die Händ’ kommst, schlag ich Dich nieder, wie einen Hund.“


(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_675.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)