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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

selten bedeutende Capitalien besitzen, spielen sich gegenwärtig die betrübenden Scenen ab, die nicht allein in die andern Ansiedelungen, sondern auch in das Städtchen Sao Leopoldo und sogar bis in die Hauptstadt Porto Alegre Furcht und Entsetzen getragen haben.

Mit der Zunahme des äußern Wohlstandes hat die geistige Entwickelung der Deutsch-Brasilianer, das heißt der Nachkommen der in Brasilien eingewanderten Deutschen, leider nicht Schritt gehalten. Die brasilianische Regierung hat zwar das Ihrige zur Hebung der Bildung durch Errichtung von Schulen gethan, aber der zäh am Alten klebende Bauer, der sich selten die Sprache seiner neuen Heimath aneignet, schickt seine Kinder wenig in diese brasilianischen Schulen, mag aber ebenso wenig für Gründung deutscher Schulen viel verausgaben. So ist denn der Schulunterricht der deutsch-brasilianischen Jugend ein sehr mangelhafter und hat den Boden vorbereitet, aus dem eine so furchtbare Saat des Aberglaubens und des vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Fanatismus emporsprießen konnte. Ein großes Hinderniß für die fortschreitende Hebung der geistigen Interessen liegt ferner in dem Umstande, daß die protestantischen Gemeinden in Brasilien ihre Geistlichen selbstständig wählen dürfen und die Regierung ohne weitere Prüfung die also erkorenen Pfarrer registrirt[WS 1], wodurch es denn vorgekommen ist und noch heutigen Tages vorkommt, daß frühere Schneider und Schuster, in Deutschland weggejagte Dorfschulmeister, verkommene Officiere und Feldwebel etc. als Seelsorger fungiren.

Eine der bestsituirten Ansiedelungen der Excolonie Sao Leopoldo ist der sogenannte Leoner Hof, wo bereits vor Jahren einer der deutschen Bauern, Johann Georg Maurer, eines gewissen Rufes als Wunderdoctor genoß und vielen Zuspruch von den Bauern, zuweilen sogar von Bewohnern Porto Alegres hatte, die hinauspilgerten, um sich durch irgend ein Wundertränkchen curiren zu lassen. Die Einnahmen waren gut und erweckten jedenfalls in den speculativen Köpfen des Maurer’schen Ehepaares die Idee, sie auf bequeme Weise noch reichlicher fließen zu machen. Vor etwa zwei Jahren verlautete es in der Gegend, daß Frau Jakobine Maurer hellsehend geworden und in diesem Zustande höherer Eingebungen theilhaftig sei. Mit einem weißen Gewande angethan, eine Krone von Goldpapier auf dem Haupte, erschien die neue Prophetin und that den staunenden Zuhörern, die sich in ihrem Hause einfanden, in somnambülem Zustande kund, welcher speciellen Erleuchtungen sie von Gott gewürdigt worden sei. Vor Allem behauptete sie, daß ihr allein es gegeben sei, die Bibel, an der sie streng festhalte, richtig zu erklären. In aller Stille gewann sie sich Anhänger und legte sich als „Christusin“, welchen Namen sie sich anmaßte, auch die entsprechenden Apostel zu.

Man lachte und ließ die Leute ihren Hokuspokus treiben, da keines der Landesgesetze dadurch direct verletzt wurde, welche Gesetze, nebenbei bemerkt, ohnehin nicht mit der nöthigen Energie gehandhabt werden. Einer polizeilichen Beachtung wurde die Secte – denn bis zu einer solchen hatten sich die der Prophetin anhängenden Bauern entwickelt – erst für werth gehalten, als größere Versammlungen religiösen Charakters in dem Maurer’schen Hause stattfanden und sich die andern deutschen Colonisten über diesen Unfug bei den Gerichten beschwerten und eifrigen Protest erhoben. Mehrmals verhaftete man Jakobinen, ihren Mann und verschiedene Anhänger; die Verhöre ergaben nicht den nöthigen Anhalt zu einem Criminalverfahren, sondern lieferten, in den Zeitungen veröffentlicht, den Lesern nur Stoff zu höchstem Staunen, wie durch den dort vorgebrachten Blödsinn sich Jemand Anhänger gewinnen könne, und zu herzlichem Lachen über die Art und Weise, wie die Engel, Christus und selbst der liebe Herrgott als zu der Erleuchteten redend eingeführt wurden, wobei sich die Himmlischen einer nichts weniger als erhabenen Sprache bedienten, sondern sich die seltsamsten gemeinen Ausdrücke in höchst unreinem Deutsch entschlüpfen ließen. Auch konnte man unschwer erkennen, daß die Beziehungen der Frau „Christusin“ zu ihren Aposteln keineswegs rein geistige waren, was aber, als in das Gebiet der Moral gehörig, nicht vor das Forum der Justiz zu ziehen war.

Diese religiösen Versammlungen wurden verboten, fanden aber nach wie vor statt. Erst nachdem ein Colonist, Namens Lehn, der mit dem Amte eines sogenannten Viertelsinspectors betraut war, sich wegen seines völlig gesetzlichen Einschreitens gegen eine solche verbotene Versammlung die Feindschaft der „Mucker“, wie sie nun allgemein in der Gegend genannt wurden, zugezogen hatte, begann das Treiben derselben einen verbrecherischen Anstrich zu nehmen. Der Viertelsinspector Lehn wurde eines Abends durch Klopfen an sein Haus aus seiner Wohnung gelockt und, als er an der Thür erschien, durch mehrere Schüsse verwundet. Der Verdacht fiel natürlich auf die Maurer’schen Anhänger, obgleich die erfolgte Untersuchung keine hinreichenden Beweise ergab. Doch mußten Maurer und Genossen einen sogenannten termo de bem viver unterzeichnen, einen gerichtlichen Act, in dem man sich verpflichtet, sich Nichts zu Schulden kommen zu lassen, und andernfalls einer Gefängnißstrafe von dreißig Tagen und einer Geldbuße von dreißig Milreis sich zu unterwerfen.

Die Polizei hielt indeß doch für nöthig, ein wachsames Auge auf die Sectirer zu haben, konnte aber des Reformgesetzes halber ein energisches, Verbrechen vorbeugendes Verfahren nicht einschlagen. Es mögen früher von Seiten der Polizeibeamten hier und da Uebergriffe und Amtsbefugnißüberschreitungen stattgefunden haben, weshalb die Staatsregierung vor mehreren Jahren dieses Reformgesetz erließ, das die Gewalt der Polizei in einer Weise einschränkt, die natürlich dem Verbrecher zu Gute kommt; so sind z. B. die Untergerichte nicht befugt, einen irgend eines Verbrechens fast bis zur Gewißheit verdächtigen Menschen gefangen zu nehmen, wenn sie ihn nicht auf frischer That erwischen; daß dies in den wenigsten Fällen stattfinden kann, ist klar, und selbst den Obergerichten sind daher die Hände sehr gebunden.

So konnten denn die Sectirer, man möchte sagen unter den Augen der Polizei, ein ganz ungewöhnliches Gebäude errichten, das durch seine Bauart den Verdacht wenig friedlicher Zwecke erregen mußte: einen gewölbten Bau, ohne Thür und Fenster, mit drei bis vier Fuß starken Sandsteinmauern und vielen Schießscharten versehen, dessen Eingang durch unterirdische Gänge vermittelt wird.

Das seltsame Tabernakel beherbergt die Prophetin mit Familie und dient zugleich als Kirche für den wundersamen Cultus. Ueber die specielleren Glaubenslehren der neuen Secte, die sich sowohl aus Protestanten wie aus Katholiken rekrutirt hat, ist man im Publicum wenig unterrichtet; doch haben Gefangene ausgesagt, daß man der Lehre von dem gemeinsamen Besitze der Frauen huldige. Gedenkt man außerdem des in’s Leben greifenden Bibelwortes: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,“ so mag man seine Schlüsse über die Dogmen dieser Mucker ziehen. Als geheime Triebfeder des Ganzen wird mit Bestimmtheit der Expastor Klein genannt, der, nachdem er in Deutschland eine ziemlich gute Gymnasialbildung genossen, nach Nordamerika ging, wo er sich durch mehrere Excesse unmöglich machte, dann die Provinz Rio Grande mit seiner Gegenwart beglückte und auf die oben erwähnte Weise zum Pfarrer der „Achtundvierziger Colonie“ erwählt wurde. Frühere Artikel aus seiner Feder in amerikanischen Zeitungen ließen viele Begabung erkennen, die er freilich schändlich gemißbraucht hat. Ihre Lehre geheim zu halten, gehört auch zum Bestreben der Mucker, und um einen früheren Bekenner für seinen Abfall zu züchtigen und ungelegene Bekenntnisse zu verhindern, wurde das nächste Verbrechen, dem noch viele folgen sollten, begangen.

Einem fünfzehnjährigen Burschen, Namens Haubert, wurde, da sein Vormund der Secte angehörte und ihn in das Treiben mit hineinzog, von Gerichtswegen ein anderer Vormund in der Person eines ehrsamen Schneidermeisters in Sao Leopoldo bestellt, der ihn zu sich in die Lehre nahm. Der junge Mensch saß eines Abends noch am Schneidertische in einer Stube des Erdgeschosses, als durch das Fenster eine Kugel schlug und ihn mitten durch das Herz traf, so daß sein Tod augenblicklich erfolgte. Mehrere Individuen, der Secte angehörend, hatte man sich in der Nähe herumtreiben sehen; sie wurden auch verfolgt, entkamen aber unter dem Schutze der Dunkelheit in die Wälder, nachdem sie noch verschiedene Personen durch Schüsse verwundet.

Mehrere Wochen verstrichen, bis endlich die Schandthaten eine Ausdehnung annahmen, die Angst und Schrecken in den sonst so friedlichen Colonien verbreiteten, den Verkehr ganz unterbrachen und die Colonisten bewogen, selbst die nöthigsten Feldarbeiten einzustellen. Ein Colonist in Lomba Grande, Namens

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_644.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)