Seite:Die Gartenlaube (1874) 641.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Seine Hand, die er ihr zum Lebewohl entgegenstreckte, umschloß mit krampfhaftem Druck die ihrige, als die Thür sich öffnete und der kleine Reinhold hereinstürmte, der sich mit kindlichem Ungestüm an den Oheim hing.

„Onkel Hugo, Du willst fort?“ rief er athemlos. „Jonas hat Deine Koffer gepackt und sagt, Du wolltest morgen abreisen. Onkel Hugo, das darfst Du nicht; Du mußt bei uns bleiben.“

Der Capitain hob den Knaben empor und drückte mit leidenschaftlicher Heftigkeit seine Lippen auf die des Kindes.

„Bringe Deiner Mutter diesen Kuß!“ flüsterte er mit halb erstickter Stimme. „Von Deinen Lippen wird sie ihn ja wohl nehmen dürfen. Lebe wohl, mein Kind – Leben Sie wohl, Ella!“ –

„Mama,“ sagte der kleine Reinhold, indem er verwundert dem Oheim nachblickte, der ihn so stürmisch niedergesetzt und dann das Zimmer verlassen hatte, „Mama, was hat denn Onkel Hugo? Er weinte ja, als er mich küßte.“

Die junge Frau zog das Kind an sich und jetzt berührten auch ihre Lippen die Stirn desselben, die noch feucht war, wie von zwei darauf niedergefallenen Thränen.

„Es wird dem Onkel schwer, uns zu verlassen,“ erwiderte sie leise. „Aber er muß fort – Gott gebe, daß er einst zu uns zurückkehrt!“




In der alten Hafen- und Handelsstadt H. hatte sich im Laufe der Zeit nur wenig verändert. Sie sah noch ebenso aus, wie vor zehn Jahren, als die italienische Operngesellschaft hier ihre ersten Vorstellungen gab. Das ältere Stadtviertel lag noch ebenso düster und winklig, das neuere noch ebenso vornehm und ruhig da, wie zu jener Zeit; auf den Straßen und am Hafen herrschte noch das alte rege Leben und Treiben, und heute, an einem Frühlingsabende, lag auch wieder die alte feuchte Nebelatmosphäre über der Stadt und ihrer Umgebung.

Im Erlau’schen Hause herrschte eine ungewöhnliche Aufregung. Der große, sonst mit vornehmer Ruhe und Pünktlichkeit geführte Haushalt schien heute ganz aus den Fugen gegangen zu sein. Es war ein Rennen und Laufen ohne Ende; die ganze Flucht der Zimmer war geöffnet und erleuchtet; die Dienerschaft befand sich in vollster Gala und wurde mit Befehlen bald hierhin, bald dorthin gerufen. Die Equipage war bereits vor einer Stunde nach dem Bahnhofe abgefahren, und soeben trat die Verwandte, welche jetzt dem Haushalte des Consuls vorstand, eine schon ältere Dame, in Begleitung des Doctor Welding in den großen Salon.

„Ich versichere es Ihnen, Herr Doctor, mit meinem Cousin ist heute nicht auszukommen,“ klagte sie, während sie sich mit der Miene der Erschöpfung auf einen Fauteuil niederließ. „Er bringt das ganze Haus in Aufruhr und jagt die gesammte Dienerschaft mit Befehlen und Anordnungen durcheinander. Nichts ist ihm festlich und glänzend genug. Ich freue mich gewiß auch, meine liebe Eleonore wiederzusehen, und ihren berühmten Gatten persönlich kennen zu lernen, aber der Consul hat mich mit seiner Aufregung bereits so nervös gemacht, daß ich wünsche, die Empfangsfeierlichkeiten wären erst überstanden.“

„Es ist ja aber auch das erste Mal, daß er seine Pflegetochter wieder im eigenen Hause empfängt,“ sagte Welding. Der Doctor hatte sich in dem langen Zeitraume kaum verändert; er sah nur wenig älter aus. Es war noch immer das scharf und geistreich gezeichnete Gesicht, der durchdringende Blick und der ihm eigene ironische Klang der Stimme, mit dem er jetzt fortfuhr: „Herr Reinhold Almbach scheint dem Consul gegenüber seine Oberhoheit über seine Frau ganz entschieden zu behaupten. Er hat es, wie Sie wissen, richtig durchgesetzt, daß Erlau jedesmal zu ihnen nach der Residenz kommen mußte, und wir bekamen trotz aller Versprechungen Frau Eleonore nicht eher zu sehen, als bis der Herr Gemahl sich entschloß, sie hierher zu begleiten. Es scheint, er kann sie nicht eine einzige Woche lang entbehren.“

„Nein, gewiß nicht,“ rief die Dame gerührt. „Sie sollten nur den Cousin davon erzählen hören, der erst so sehr gegen Reinhold eingenommen war, und nun mit ihm und dem Glücke Eleonorens völlig ausgesöhnt ist. Es ist eine Liebe zwischen den Beiden, so rein und klar, so fest und stark, und dabei von einem so märchenhaft poetischen Hauche umwoben, daß sie fast wie eine Sage herüberklingt in unsere glückes- und liebesarme Zeit.“

Der Doctor verbeugte sich ironisch. „Vollkommen richtig, meine Gnädige. Ich sehe mit Vergnügen, welche eingehende Aufmerksamkeit Sie meinen Artikeln widmen. Genau dasselbe stand in Nr. 12 des ‚Morgenblattes‘, gelegentlich einer Besprechung des Textes zu Rinaldo’s neuester Oper.“

„So? Steht es im ‚Morgenblatt‘?“ fragte die Dame in einiger Verlegenheit; es schien ihr lieb zu sein, daß in diesem Momente der Consul eintrat, der, ohne in seiner freudigen Aufregung den Doctor zu bemerken sofort auf sie zueilte.

„Aber beste Cousine, ich suche Sie überall. Der Wagen kann jede Minute vom Bahnhofe zurückkehren, und wir hatten ja ausgemacht, daß wir zusammen unsere lieben Gäste empfangen wollen. Ist das rothe Cabinet noch nachträglich erleuchtet worden, wie ich befahl? Ist der Heinrich drunten im Vestibül bei der übrigen Dienerschaft? Haben Sie –“

„Cousin, Sie machen mich nervös mit Ihren unaufhörlichen Fragen,“ rief die Dame in etwas gereiztem Tone. „Ist es denn das erste Mal, daß Sie mir die Anordnung einer Festlichkeit übertragen? Ich habe Ihnen bereits zwei Mal versichert, daß Alles nach Ihren Wünschen geregelt ist.“

„Das ist für heute nicht genug,“ mischte sich jetzt Welding in das Gespräch. „Diesmal übernimmt der Herr Consul selbst die Rolle des Hausmeisters und inspicirt das ganze Haus vom Boden bis zum Keller. Wehe Dem, der sich heute nicht im Festgewande vor ihm blicken läßt!“

„Spotten Sie nur!“ lachte der Consul. „Ich werde mir die Freude des Wiedersehens dadurch nicht stören lassen, und mit Ihnen, Doctor, bin ich überhaupt ausgesöhnt, seit Sie in Ihrem ,Morgenblatte‘ eine solche Jubelhymne über Reinhold’s neuestes Werk anstimmten.“

„Bitte, ich schreibe keine Jubelhymnen,“ sagte der Doctor etwas pikirt. „Ich habe im Gegentheil nur zu oft die Erfahrung machen müssen, daß meine Kritiken von den Herren Künstlern mit weniger schmeichelhaften Namen belegt werden. Unser großer Mime und Heldentenor, der, wie Sie wissen, sein hochtragisches Bühnenpathos stets auch im wirklichen Lehen beibehält, nannte neulich erst mein Urtheil über eine seiner Hauptrollen ,den Ausfluß der schwärzesten Bosheit, die je eine schwarze Menschenseele ausgebrütet‘. Wie finden Sie das?“

„Nun, Reinhold hatte auch genug von Ihrer Feder auszustehen,“ meinte Erlau. „Ein Glück, daß er damals in Italien unser ‚Morgenblatt‘ nicht zu Gesichte bekam; er hätte sonst sehr unliebsame Dinge lesen müssen, ‚von der beklagenswerthen Richtung eines unleugbar großen Talentes, von unverzeihlicher Verschleuderung der kostbarsten Gaben, von der Verwirrung eines Genius, der zum Höchsten befähigt und dennoch auf dem Wege sei, sich und die Kunst zu ruiniren‘ – und was dergleichen Artigkeiten mehr waren.“

„Mit denen Sie damals doch völlig einverstanden waren,“ ergänzte Welding. „Gewiß, ich bin ein offener Gegner Rinaldo’s gewesen. So unbedingt ich von jeher sein großes Talent anerkannte, so sehr ich ihn bei seinen ersten künstlerischen Versuchen ermuthigte, so entschieden verwarf ich jene Richtung, der er sich später in Italien zuwandte. Jetzt ist das anders geworden. Sein neuestes Werk zeugt von einer Umkehr, zu der man ihm und der Kunst nur Glück wünschen kann. Er hat sich durchgerungen durch die wilde Gährung zur vollsten Freiheit und Klarheit des künstlerischen Schaffens. Sein Genius scheint endlich die rechte Bahn gefunden zu haben – dieses Werk steht durchaus auf der Höhe seines Talentes.“

„Natürlich – und das ist einzig Eleonorens Verdienst,“ sagte Erlau mit unerschütterlicher Zuversicht, während seine Cousine sehr andächtig den Worten des Doctors lauschte.

„Hilft Frau Almbach ihrem Gemahl bei seinen Compositionen?“ fragte Welding boshaft.

„Lassen Sie die Malice, Doctor! Sie wissen doch am besten, wie ich es meine,“ rief der Consul ärgerlich. „Nun, Heinrich, was giebt es?“ wandte er sich an den rasch eintretenden Diener, der berichtete, daß der Wagen soeben vorfahre.

„Cousin! Um Gottes willen, langsamer! Die ganze Dienerschaft steht ja draußen im Vestibül,“ rief die alte Dame, die sich bereit gemacht hatte, die Ankommenden feierlich und würdevoll zu empfangen, und die jetzt von dem Consul, der ihren Arm ergriff, so stürmisch fortgezogen wurde, daß die Majestät ihrer

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_641.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)