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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

wenig Augenblicken den steilen Bergweg hinuntergeeilt und im Dunkel verschwunden.

Liesl kehrte zu uns zurück, die wir schweigend zugehört. Auf meine Frage, wer die Frau sei und welche Bewandtniß es habe mit ihrer offenbar beziehungsreichen Andeutung wegen der Gindelalm, erwiderte sie mit ihrem gewohnten Kopfnicken, indem sie den Spitzhut auf dem grauen Haare drehte und etwas nach vorne schob: „Wer das gewesen ist? Das war die Wittib vom Forstner drunten in Tegernsee. Wie sie jung g’wesen ist, hat man sie nur das Spötterl g’heißen, und warum man sie so g’heißen hat und was ich mit der Gindelalm gemeint hab’, das ist eine sonderbare Geschicht’, von der man lange erzählen könnt’. Aber ich muß noch in’s Haus hinein, muß Alles herrichten. Morgen ist ein abgeschaffter Feiertag. Da kommen schon in aller Früh’ so viel’ Leut’, die Küchel haben wollen; da muß vorgerichtet sein, damit ich gleich in aller Früh’ eine tüchtige Pfann’ voll ’rausbachen kann. Wenn’s Euch bis dahin nit zu spät wird und Ihr die Geduld nit verliert, kann ich’s ja erzählen, wenn ich wieder komm’.“

Und sie kam wieder. Der Mond war inzwischen aufgegangen; See und Berge schliefen und lagen hell, fast wie am Tage, und doch in einen Duftschleier gehüllt, der ihren Schlummer zu verdecken schien. Der Mond neigte sich schon zum Untergange, als auch wir zur Ruhe gingen und sie ihre Erzählung geendet hatte – die Geschichte vom Spötterl.




1. Klopf’ an!


Der Gesang einer kräftigen, aber etwas rauhen Männerstimme schwebte vom Ufer des Tegernsees über die abendbeglänzten Wellen hinaus; verhallend klangen die Töne durch das dämmernde Abendlicht, wie Wasserkreise, welche ein fallender Stein immer weiter und immer schwächer bis an das ferne jenseitige Gestade treibt, wo sie am Fuße der Berge erlöschen. Die Worte des Gesanges lauteten:

„Im Zwielicht singt d’ Amsel,
Und der Baamhackl hackt;
Aber nix is’ so fein,
Als wenn d’ Wachtel so schlagt.“

An den Gesang reihte sich im Tacte des Liedchens eine Nachahmung des Wachtelschlages von solcher Natürlichkeit, daß man glauben mochte, an einem vollen, reifen Aehrenfelde zu stehen, aus welchem wirklich der lockende Ruf erscholl.

Der Singende war ein hochgewachsener Bursche, der in einem Kahne saß und die Cither auf den Knieen hielt, mit der er seinen Gesang begleitete. Der Bursche war nicht mehr ganz jung, sondern stand nahe an der Schwelle des reiferen Mannesalters. Wohl lockte sich das braune Kraushaar dicht um seinen Kopf; aber die Stirn wölbte sich schon höher nach oben. Fest und beinahe streng waren die Züge des scharf geschnittenen Angesichts mit der kräftig gebogenen Nase und dem starken, lang herabhängenden Schnurrbarte; dennoch war der Gesammtausdruck ein freundlicher, und das nußbraune Auge, das unter dichten Brauen funkelte, blickte ebenso freundlich wie trotzig; es zeigte, daß das Gemüth, das aus ihm sprach, zum Freundesgruße ebenso bereit und geübt war, wie zum Feindestrutze. Ueber die hohe Stirn lief eine breite Narbe und ließ zum Theil errathen, daß der Weg, auf dem der Bursche gewandelt, nicht immer ein friedlicher gewesen.

Um den Nachen des Sängers herum lagen viele andere Fahrzeuge dicht aneinander gedrängt, wie eben der Zufall beim früheren oder späteren Anlanden sie geordnet; viele Landleute aus den Seedörfern saßen darin, andere waren ausgestiegen und standen nun am Gestade bei den Einwohnern von Tegernsee, die sich ebenfalls eingefunden, an den erwarteten Lustbarkeiten des Abends, die zu Ehren der anwesenden Kaiser von Oesterreich und Rußland stattfinden sollten, theilzunehmen.

Ein Weile waltete Schweigen umher, auf dem Wasser wie auf dem Gestade; Alles hatte mit Wohlgefallen dem Gesange und Tonspiele gelauscht und schien einer etwaigen Wiederholung oder Fortsetzung gewärtig. Diese blieb auch nicht aus. Nach wenigen Augenblicken erhob sich wie zur Antwort eine zweite Stimme, deren erste Töne verkündeten, daß sie aus einer jüngeren und zarteren Kehle kamen; ein Mädchen, das ziemlich weit entfernt ebenfalls in einem Kahne saß, begann zu singen, und ihr Gesang, zart und nicht stark, hörte sich beinahe wie Vogelgezwitscher an, aber auch lieblich und anmuthig wie dieses; das Mädchen sang:

„Jeder Vogel, der singt,
Hat sein’ vorg’schrieb’nen Schlag;
Grad’ das Spötterl, das einzig’,
Das singt, was es nur mag.“

An den Gesang reihte sich der übliche Jodler, aber in ganz anderer Weise, als dies sonst gebräuchlich war. Er glich einer Art von Wettgesang verschiedener Vögel, und hatte der Bursche in seiner Nachahmung der Wachtel das Unglaubliche geleistet, so wurde er weit durch die Kehlfertigkeit, Geschicklichkeit und Naturtreue übertroffen, mit welcher das Mädchen abwechselnd und in buntem Durcheinander das Schmettern des Finken, den Schlag der Amsel, das Schmätzen der Grasmücke, das gurgelnde Geschwätz der Schwalben oder das Gezwitscher des Rothkehlchens hören ließ. War zuvor die Aufmerksamkeit und das Wohlgefallen allgemein gewesen, so hielt jetzt Alles mit Gespräch und Bewegung inne, um nicht den Uferkies unter den Füßen knirschen oder die Nachen aneinander stoßen zu lassen. Nichts war zu vernehmen, als der lallende Anschlag der Wellen an den Kähnen, der sich fast wie eine melodische Begleitung anhörte.

Der aufmerksamste Zuhörer aber war der Wachtelschläger. Gleich beim ersten Tone hatte er sich in seinem Schiffe hoch aufgerichtet und starrte nun wie versteint nach der Sängerin hinüber. Es war nicht zu sagen, ob sein Betrachten mehr der Gestalt der Singenden oder dem Gesange galt, in welchem sich ihr ganzes eigenartiges Wesen kund zu geben schien; so scharf sein Auge auch spähte, konnte er doch nicht mehr erkennen, als daß die Sängerin ein schlank gebautes, jugendliches Mädchen von seltener Zierlichkeit der Gestalt war. Die Züge des Angesichts verschwammen in der Entfernung, denn immer grauer wurde die Abenddämmerung, immer bleicher ihr Widerschein im See.

Der Gesang war zu Ende, das anfängliche Schweigen der Versammlung verwandelte sich in Murmeln und halblautes Rufen. Man fand aber nicht Zeit, dem Gefallen vollen Ausdruck zu geben, denn der Bursche im Kahne hatte sofort, ohne sich wieder niederzusetzen und zur Cither zu greifen, laut und ohne Begleitung zu dem Mädchen hinübergesungen, wie dies bei Trutzgesängen der Brauch ist:

„Du Spötterl, Du schneidig’s,
Wie stellst denn das an?
Und wenn ich Dein Nest wüßt’,
Nachher klopfet i’ an.“

Begierig drängten sich Alle näher; denn der Herausforderung, die hierin lag, mußte nach aller Wahrscheinlichkeit ein munterer Wettkampf folgen, aber so schnell der Angriff abgeschossen war, so flink schnellte die Abwehr zurück und zeigte, daß das Mädchen wohl im Stande sei, sich sieghaft auf einen solchen Kampf einzulassen, daß sie aber entweder augenblicklich keine Lust verspürte, einen solchen zu beginnen, oder daß ihr der Gegner nicht gefiel, und sie ihn sonst nicht für ebenbürtig hielt. Sie sang:

„Wennst a Schneid hast, klopf’ an!
Etwann wird Dir auf’than.
Wann i’ ’n Schlüssel nit hab’,
Heißt’s halt wieder: Fahr’ ab!“

Die Anwesenden brachen in lautes Lachen aus und drängten näher gegen den Kahn des Mädchens, um sie besser zu sehen und zu hören, ihr schien aber gerade diese Annäherung nicht zu behagen: sie war aufgesprungen, mit raschem und sicherem Tritte aus dem Nachen an das Ufer gestiegen und hatte sich, ehe man es recht gewahr geworden, unter der Menge verloren.

Auch der Bursche war herbeigeeilt, rasch und dennoch zu spät; er kam nur noch eben recht, um Zuhörer der Gespräche zu sein, mit denen die Umstehenden sich über die Entflohene unterhielten. Es waren mehrere ältere und reiche Bauern aus der Umgegend, die als eine Art von Respectspersonen etwas bei Seite standen und das junge Volk sich selbst und seiner eigenen Fröhlichkeit überließen, während sie selbst sich zu den Dorfbewohnern hielten. Nicht nur von den nächsten Anhöhen waren die Siedler vom Pfliegel- und Westerhofe heruntergekommen; auch der Sonnen-Moser aus seiner lindenumrauschten Einsamkeit hatte sich eingefunden; die Bauern von Rottach und Egern fehlten nicht, und auch die Anwohner des jenseitigen, westlichen Gestades waren von ihren Einöden herübergerudert.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_636.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)