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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 40.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Geschichte vom Spötterl.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Aus den bairischen Bergen.


Von Herman Schmid.


Trotz Winter und Entfernung liegst du nah’ und frühlinghaft vor meiner Seele, du Kronjuwel im felsigen Schatzkästlein der Gebirge, sanftes, feucht glänzendes Auge zwischen den Schattenwimpern der Wälder – du, freundlicher Schliersee! Du liegst vor mir, als stünde ich auf der Landzunge des Freudenbergs, die sich weit in deine weichen Fluthen vordrängt, wie eine von der Natur selbst vorgeschobene Ruhebank, von der aus man deine Anmuth und die Herrlichkeit der Berge um dich her besser bewundern kann. Ich sehe dich vor mir in jener Zeit, da du noch unentweiht ruhtest, da in deine Einsamkeit nur der stille Naturfreund pilgerte, ehrfurchtsvoll, wie man in einen Tempel tritt – als noch an deinen Ufern nur deine einfachen Naturkinder hausten, die Begier nach Schätzen deine grünen Matten noch nicht umgewühlt, deine Berge noch nicht entwaldet hatte. Nun hat das eherne Gesetz des Lebens seine Eisenstraße auch in deinen Frieden gekeilt; die laute Menge drängt sich nun durch dein Heiligthum, und du bist wie ein Schaustück geworden, das man zu lauter Bewunderung auf die geschmückte Tafel des Genusses stellt. Ich sehe dich vor mir mit den Augen der Jugend, und mir ist, als schaute ich durch die herrlichen Kronen der Obstbäume des Freudenbergs, die nun meist gefallen sind, um den nüchternen Tischen eines Kaffeehauses Platz zu machen; mir ist, als säße ich auf den schlichten Holzbänken vor dem einfachen einstigen Försterhause, und du beginnest in der Dämmerung zu dunkeln und nur noch den letzten Schein wiederzuspiegeln, mit welchem die weit hinten im Flachlande gesunkene Sonne noch die Zacken des Jägerkamms begrüßt und den Felsengrat der Brecherspitze.

So sah ich dich einmal – um mich und dich herum war es stille wie vor dem Einschlafen. Ein Rabe zog schreiend nach dem Rohnberge, seinem Neste zu in den Burgruinen von Waldeck, die man damals noch über die Tannen emporragen sah; meine alte, liebe Freundin, die viel genannte, doch so wenig gekannte Fischerliesl hatte mir und den Meinen den Abendimbiß gebracht und saß nun plaudernd neben uns – von den Kirschbäumen aber, die gegen die Badhütten hinunter stehen, sang eine Amsel darein, die gleich uns von dem schönen Abend sich nicht trennen zu können schien.

Der Hall von herankommenden Schritten, zu so später Stunde eine Seltenheit, unterbrach das Gespräch. Aus der Dämmerung und unter den Bäumen um den Schießstand tauchte, allgemach näher kommend, eine Frauengestalt hervor und trat an’s Haus, von Liesl, welche die Hand über den Augen hielt, mit Verwunderung betrachtet.

„Grüß Gott, Liesl!“ sagte die Frau. „Brauchst Deine Augen nit anzustrengen; ich bin’s schon, die Du meinst.“

„Wirklich, Du bist’s, Forstnerin,“ sagte diese, indem sie, den Gruß erwidernd, ihr die Hand bot. „Was giebt’s denn, daß Du noch so bei Nacht und Nebel unterwegs bist? Willst noch nach Schliers hinüber?“

„Ja,“ erwiderte die Angeredete. „Mein ältester Bub’ ist alleweil so letz’ g’wesen mit seinen Augen, daß ich g’fürcht’t hab’, er wird mir ganz blind. Da hab’ ich mich verlobt zu der Mutter Gottes auf dem Birkenstein, und seitdem ist’s besser worden, und so hab’ ich mich jetzt auf den Weg g’macht. Heut’ will ich drüben in Schliers beim Forstner nachten und morgen in aller Früh’ mich auf den Weg machen. … Leicht, daß ich noch überführen kann über’n See?“

„Wird sich wohl noch machen,“ sagte Liesl, indem sie aufstand und auf der Gräd gegen die Vorderseite des Hauses ging, wo das Seil zu der Glocke hing, um dem Fischer am andern Ufer das Zeichen zu geben, daß noch Jemand übergeführt und geholt sein wolle. Der Hall des Glöckleins klang bald in die aufhorchende Nacht, und nach wenigen Augenblicken antwortete von drüben ein ähnlicher Schall.

„Sie sind wohl noch auf beim Fischer,“ sagte Liesl, „haben Dich schon g’hört und werden gleich da sein mit dem Schiffe. Wie ist’s aber,“ fuhr sie fort, „daß Du noch so spät kommst? Bist Du erst so spät fort zu Tegernsee?“

„Das nicht,“ antwortete die Frau. „Aber unterwegs bin ich auf der Gindelalm eingekehrt, und da hab’ ich mich ein Bissel verhalten.“

Liesl lachte laut auf, wie sie nicht oft zu thun gepflegt. „Ja, ja, jung gewohnt, alt gethan,“ sagte sie dann. „Es scheint, Du gehst noch alleweil gern auf die Gindelalm.“

So dämmrig es bereits geworden, so war doch nicht zu verkennen, daß die Frau bei diesen Worten von einer raschen, eigenthümlichen Bewegung ergriffen ward. Sie lachte ebenfalls hell auf; aber ihr Lachen klang ganz eigen, fast wie beginnender und im Beginn wieder abgebrochener Gesang.

Von dem Hügelabhange herauf hörte man zugleich das Ausholen und Einfallen der Ruderschläge, welche den Fischernachen durch den See herantrieben und sie einer Antwort überhoben. Statt derselben rief sie: „Gute Nacht!“ und war in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_635.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)